„Unter Aufsicht pinkeln“

■ Tägliche Drogenkontrollen in Haftanstalten sind nicht nur menschenunwürdig, sondern auch teuer / Die medizinische Versorgung ist eine Katastrophe Von Silke Mertins

Methadon-Substituierte werden in kürzester Zeit auf Null runterdosiert; wer sich geniert, unter den Augen der Wachmänner zu urinieren, bekommt keinen Drogenersatzstoff; oft gibt's nachts keinen Sanitäter; Vorsorgeuntersuchungen zu TBC und anderen ansteckenden Krankheiten finden nicht statt. Die Liste der Vorwürfe gegen die mangelhafte medizinische Versorgung in Hamburgs Haftanstalten ist lang.

Eine Anfrage der GAL ergab jetzt zum Beispiel, daß binnen eines halben Jahres in 101 Nächten für die rund 1000 Gefangenen in der JVA Fuhlsbüttel kein Sanitäter anwesend war. Und das, obwohl nach vorsichtigen Schätzungen jeder fünfte drogenabhängig ist. 45mal mußte der Notarzt gerufen werden. Aber die Justizbehörde beruhigt: „Alle Mitarbeiter des Allgemeinen Vollzugsdienstes erhalten während ihrer Ausbildung einen Kurs in Erster Hilfe.“ Beruhigend? Da wüßte man doch bestenfalls wie „die stabile Seitenlage“ geht, belächelt der justizpolitische Sprecher der GAL, Manfred Mahr, die Mitteilung.

Justizsenator Wolfgang Hoffmann-Riem (parteilos) will zunächst den Bericht der Gesundheits- kommission Anfang April abwarten, bevor er sich ans Reformieren macht. Ob das medizinische Personal in Hamburgs Knästen jedoch, gerade in der Drogenpolitik, mitzieht, ist zweifelhaft. Hoffmann-Riem setzt auf Überzeugungsarbeit und führte vergangenen Monat ausgerechnet im offenen Vollzug Spritzenautomaten ein. „Völlig unsinnig. Den Automaten brauchen die Leute dort nicht, denn sie können sich draußen jederzeit Spritzen besorgen“, sagt der Arzt und Substitutionsexperte Manfred Peters. Er muß es wissen. Peters gehört zu den wenigen niedergelassenen Ärzten, die schon jenseits der Gefängnismauern gearbeitet und Heroinabhängige substituiert haben.

„Der politische Wille zu substituieren ist ja da“, so Peters. „Was fehlt, ist eine entsprechende Steuerung von seiten der Leitung der Justizbehörde. Aus unerklärlichen Gründen kann man den Ärzten keine Weisung erteilen.“ Die haben nämlich Therapiefreiheit. Ein Knastarzt, der nicht substituieren will, braucht das auch nicht zu tun. Für ambulante Ärzte fehlt das Geld.

„Wenn einer nun in eine Anstalt kommt, wo der Arzt nicht substituieren will, dann wird nicht substituiert“, erklärt Peters, wie Drogenpolitik nach dem Zufallsprinzip funktioniert. Die Folgen: Sie nehmen illegal Heroin – in allen Haftanstalten erhältlich. „Aidsgefahr ist dauernd gegeben. Sie haben eine Pumpe, die geht reihum, und kein Mensch weiß, wer die vorher benutzt hat.“

Doch auch innerhalb des Methadonprogramms üben substitutionsfeindliche Knastmediziner passiven Widerstand. Gegen eine rapide Runterdosierung der Methadon-Dosis in Haft haben bereits einige abhängige Patienten geklagt. Die Entzugsschmerzen sind genauso schlimm wie beim Heroin. Zudem werden die Knast-Junkies zum Teil unerträglichen Kontrollmaßnahmen ausgesetzt, die nicht nur schikanös, sondern auch unnötig teuer sind.

Das Gesetz verlangt lediglich, daß bei Methadonvergabe kontrolliert werden muß, ob zusätzliche Drogen im Spiel sind. Auf einigen drogenfreien Stationen werden die kostspieligen Urinkontrollen jedoch täglich vorgenommen. „Das tägliche Pinkeln ist ein Blödsinn“, weiß Peters, denn „die Substanzen sind tagelang im Urin nachweisbar“. Und: „Wer nicht pinkeln will, kriegt keinen Urlaub. Damit kann man die Leute unter Druck setzen. Das kostet ein Wahnsinnsgeld und ist medizinisch unsinnig“, erläutert Peters.

Die Justizbehörde bestreitet indes, knappe Haushaltsmittel zum Gitterfenster herauszuwerfen. Es würden lediglich auf zwei drogenfreien Stationen der Anstalt 9 und in den ersten Tagen in der Untersuchungshaftanstalt täglich Urinkontrollen durchgeführt. Und zwar „weil sich Heroin nicht einmal zwei Tage lang nachweisen läßt“, behauptet Behördensprecherin Irene Lamb. In allen substituierenden Arztpraxen in der Stadt wird aber nur einmal die Woche kontrolliert. In Hamburgs JVAs, so Lamb, würde im „Einzelfall“, also bei Verdachtsmomenten, eine Urinkontrolle angeordnet. Für die Häufigkeit gebe es „keine festen Vorschriften“.

Eine feste Vorschrift ist hingegen, daß der substituierte Knacki unter den Augen des Wachpersonals seine Blase entleeren muß – alternativlos. Wem dabei das Pinkeln vergeht, kriegt kein Methadon. „Es ist gegen die Menschenwürde, wenn man jemanden unter Aufsicht pinkeln läßt“, empört sich Mediziner Peters. Das sei weder für die, die zugucken müssen, noch für den Betroffenen zumutbar. Und auch noch medizinisch unsinnig. „In den Praxen überprüfen wir die Temperatur des Urins. Hat er Körpertemperatur, wurde richtig reingepinkelt. Wenn der Urin kalt ist, wurde Wasser hineingeschüttet“, erklärt Peters das simple Verfahren. „Ich brauche nicht danebenzustehen und würde mich auch weigern. Diese Praktik gehört abgeschafft.“