: Samen für die Skythen-Steppe
■ Die Hamburger Archäologie-Professorin Renate Rolle verbindet Grabungen in der Ukraine mit angewandter Entwicklungshilfe Von Iris Schneider
„Archäologen sind ein eigenes Völkchen, die sind zäh und halten viel aus“, beschreibt Renate Rolle, Professorin für Vor- und Frühgeschichte an der Universität Hamburg ihre Zunft. Und man glaubt es ihr aufs Wort, wenn sie einem so entgegenkommt, klein und doch kräftig, bekleidet mit Hose und Bluse sowie einer Lederweste in der Farbe reifer Auberginen.
Zu Gemüse in allen Formen hat sie in den vergangenen Jahren eine besondere Beziehung entwickelt. Und die hängt mit ihrem aktuellen Grabungsprojekt in Belsk in der Ukraine zusammen. Seit beinahe 30 Jahren gräbt sie in der Republik, die bis vor fünf Jahren zur Sowjet-union gehörte.
Angefangen hatte alles mit einem Wissenschaftleraustausch, den die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Ende der 60er Jahre organisierte. Die frisch promovierte Renate Rolle verschlug es nach Kiew an das Archäologische Institut der Akademie der Wissenschaften, zweieinhalb Jahre blieb die junge Vor- und Frühgeschichtlerin im Südwesten der Sowjetunion. Auf ihren ausgedehnten Exkursionen hat sie Samarkand, Erewan, Tbilissi und Grosny gesehen. Und das zu einer Zeit, als das größte Land der Erde noch nahezu unerreichbar hinter dem eisernen Vorhang lag. Wenn sie an ihre Jahre im Vierbettzimmer eines Aspiranten-Wohnheims denkt, mischen sich in ihrer Stimme Wehmut mit Verwunderung darüber, die ungewohnte Lebenssituation wie selbstverständlich gemeistert zu haben.
Vor Ort erst hat sie damals Russisch gelernt. Heute spricht man in der Ukraine – zumindest im offiziellen Kontext – wieder Ukrainisch. Das zu lernen, sei zur Zeit ihr größtes Problem, gesteht Renata Rolle, wie sie die ukrainischen Kollegen nennen, weil deren Grammatik weibliche Vornamen auf e nicht zulassen.
Seit damals ist sie immer wieder zurückgekehrt, um in der Ukraine zu graben. Die Skythen, ein Reitervolk, das in vorchristlicher Zeit im Nordschwarzmeergebiet lebte, beschäftigen sie seit über zwanzig Jahren. Mit Wohnwagen zogen die Skythen im Weiderhythmus ihrer Rinder über die Steppe zwischen Dnjepr und Schwarzem Meer. Ihre Toten begruben sie mit großem Aufwand. Die vornehmsten wurden in großen Grabhügeln, den Kurganen, beigesetzt. Diese „Pyramiden der Steppe“ erreichen die Höhe siebenstöckiger Hochhäuser. Die aus Grassoden und Schwarzerde bestehenden Grabkammern waren ausgestattet mit allem, was für ein Leben nach dem Tode nötig schien: Küchengeräte, Gewänder, Waffen und Schmuck. Und weil den Skythen ihre Pferde viel bedeuteten, nahmen die Herrscher ihre besten Tiere samt Knechten und Stallmeister mit ins Grab.
Seit 1992 erforscht Renate Rolle gemeinsam mit Kollegen aus Kiew eine Burgwallanlage, die ein Hochplateau mit über 4000 Hektar Fläche umschließt. 33 Kilometer lang ist der Wall und bis zu acht Meter hoch. Möglicherweise sind das die Überreste der sagenhaften skythischen Stadt Gelonos, von der schon der antike griechische Historiker Herodot berichtet. Sie sei von einem hohen Holzzaun umgeben gewesen, schreibt Herodot, und tatsächlich haben die Forscher Reste einer hölzernen Mauer gefunden.
Doch Renate Rolle ist zu sehr Wissenschaftlerin, um sich in so heiklen Fragen festzulegen, bevor Beweise vorliegen. Dafür spricht sie umso lieber von den vielfältigen Methoden, mit der ihre Disziplin den Rätseln der Vergangenheit zu Leibe rückt. Wenn sie von dem ersten Flug über der Anlage erzählt, wird sie richtig lebhaft. Mit den Händen versucht sie einen plastischen Eindruck von den Ausmaßen der Anlage zu geben. Die Frage „Was ist das überhaupt, und wer hat den Bau organisiert?“ ist ihr „furchtbar wichtig“.
Seit dem Zerfall der Sowjetunion sind ihre wissenschaftlichen Freiheiten in der Ukraine größer geworden. Luftaufnahmen oder systematische Bodenproben waren früher undenkbar. Andererseits bedrohen der wirtschaftliche Verfall des Landes und Pläne zur Privatisierung von landwirtschaftlich genutzten Flächen die Grabungen.
Und nicht zuletzt sind da die Bewohner des kleinen Dorfes Belsk, das mitten auf dem Plateau liegt. Sie betreiben eine Kolchose und nutzen das historische Gelände als Acker- und Weidefläche. Aber als Renate Rolle und ihre Kollegen zum ersten Mal ihr Zeltlager neben dem Dorf aufschlugen, war die Auswahl an frischem Gemüse sehr karg. Da die tatkräftige Professorin ihre Kiewer Freunde schon früher mit Sachspenden aus Deutschland unterstützt hatte, wollte sie auch den Bewohnern von Belsk helfen. Ein Gemüsesamen-Großhandel brachte den Stein ins Rollen, indem er verschiedene Samen in großer Menge stiftete. Diese Samen verteilte die Forscherin im Dorf und seither gedeihen in den ukrainischen Hausgärten neben Tomaten und Gurken auch Wirsing, Porree, Blumenkohl und andere deutsche Gemüsesorten.
Noch auf andere Art versucht Renate Rolle die Dorfbewohner zu unterstützen: Sie beschäftigt sie im Grabungsprojekt und leitet kleine Reaktivierungsmaßnahmen für das Dorf ein. So hofft sie, bei der Bevölkerung Verständnis für das Projekt zu wecken. Denn nur dadurch kann die von vielfältigen Zerstörungen bedrohte Wallanlage geschützt werden. Einen gesetzlichen Schutz für Bodendenkmäler, wie er in der Bundesrepublik selbstverständlich ist, gibt es in der Ukraine nicht. Außerdem, sagt Renate Rolle, „von oben gesetzmäßig schützen würde wenig helfen, weil die Bevölkerung das wahrscheinlich sabotiert.“
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