: Menschen und Kilowattstunde
Die Atomgemeinde hat ihre eigene Wahrnehmung des Super-GAU in Tschernobyl. Sie zählt ganze 31 Tote. Langzeitfolgen seien nicht eindeutig nachzuweisen ■ Von Irene Meichsner
Das schönste Kompliment kam von Joachim Grawe, dem damaligen Hauptgeschäftsführer der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW). Fünf Jahre waren seit der Katastrophe in Tschernobyl vergangen, und offenbar war alles gar nicht so schlimm wie angenommen.
In seiner kleinen Sammlung von „Fragen, Argumenten und Meinungen“ zur „Energie für morgen“ hatte ein Helmut Körber ganze 31 Todesopfer gezählt. Und Grawe bescheinigt ihm in einem Vorwort, ein „vorzüglich gegliedertes und verständlich geschriebenes Vademecum zur Energiediskussion geschaffen“ zu haben.
Kein Wunder, daß Grawe die Sache mit den 31 Toten gefiel. Grawe war schon 1988 zum gleichen Ergebnis gekommen. Im Fachorgan Energiewirtschaftliche Tagesfragen schrieb der Stromlobbyist den Super-GAU zum tödlichen Unfall herunter. Und andere Unfälle im Energiesektor hätten viel mehr Todesopfer gefordert: 51 Bergleute nach Explosionen in der Braunkohlengrube Borken/Stolzenbach, 166 Arbeiter auf der Nordsee-Ölbohrinsel Piper Alpha – ganz abgesehen vom „häufigen Untergang vollbesetzter Fährschiffe, dem Absturz von Passagierflugzeugen und so weiter“. Bei den 31 Tschernobyl-Toten dachten Grawe und Körber offenbar an die Techniker und Feuerwehrmänner, die bei der Explosion und bei den ersten Löschversuchen ums Leben kamen oder wenig später der Strahlenkrankheit erlagen.
Kursierten doch damals bereits Gerüchte über mehrere tausend Tote allein unter den „Liquidatoren“ – jenen rund 700.000 Soldaten, Reservisten, Bergleuten und Arbeitern aus allen Winkeln der Sowjetunion, die zu Aufräumarbeiten (zwangs-)verpflichtet worden waren? Klagten nicht Unzählige über Kopfschmerzen, Müdigkeit, Muskel- und Gelenkschmerzen, Sehstörungen, Herz- und Immunschwäche?
Gebetsmühlenartig haben Fachleute der Atomgemeinde in den vergangenen Jahren versucht, bei den 31 Toten zu bleiben, die „Langzeiteffekte“ eines Super- GAUs unter den Teppich zu kehren. Fast beschwörend erklärte zum Beispiel der gelernte Chemiker Hans-Wolfang Levi, ehemaliger Geschäftsführer der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung (GSF), schon im Januar 1991, daß sich im Einzelfall niemals zweifelsfrei feststellen lassen werde, ob ein Tumor auf den Fallout oder aber auch „eine der zahllosen anderen möglichen Ursachen“ zurückzuführen sei.
Das bedeute nicht, daß die Zunahme von Strahlenkrebs „nicht real ist, daß also nicht tatsächlich Menschen infolge der Reaktorkatastrophe an Krebs sterben werden. Aber noch einmal: Kein Einzelschicksal läßt sich zuordnen.“ Im übrigen werde im Katastophengebiet inzwischen jegliche „Unpäßlichkeit“ auf radioaktive Strahlung zurückgeführt.
Solche Unpäßlichkeiten haben es diesen Atomexperten seither angetan. Selbst die 31 Toten und die krebskranken Kinder müsse man doch in der Perspektive sehen, meinte unlängst der Berliner Atomexperte Klaus Becker.
Allein in Murmansk seien „im letzten Jahr etwa hundert Personen an selbstgebranntem Fusel verstorben“, hat Becker bei Nachrichtenagenturen gelesen. Eine Nachricht, die er in einer Materialsammlung der Kerntechnischen Gesellschaft an die Atomgemeinde weitergeben mußte. Zum zehnten Tschernobyl-Jahrestag will die Kerntechnische Gesellschaft mit „Fakten“ ihre Mitglieder für die Diskussion rüsten.
31 Tote durch Super-GAU, 100 Tote durch Fusel
Apropos Perspektive: Ansonsten geht es, glaubt man Becker, auch zehn Jahre danach in den verstrahlten Regionen allen gut. Mit den vor allem in der Gegend um Gomel in Weißrußland „diagnostizierten etwa 500 Fällen von Schilddrüsenkrebs unter drei Millionen relativ stark exponierten Kindern“ kann der Becker leben, weil „glücklicherweise das Schilddrüsenkarzinom zu den am erfolgreichsten nachhaltig behandelbaren Krebsformen“ gehöre, „so daß auch hier die Zahl der belegbaren vorzeitigen Todesfälle letztlich einhundert nicht übersteigen dürfte“. Nur „zwei von diesen Kindern sollen inzwischen gestorben sein“.
Auch was die sogenannten „Liquidatoren“ betrifft, wartet Becker mit einer frohen Botschaft auf. Zwar sei deren „genaue Zahl und Altersverteilung“ überhaupt nicht bekannt. Trotzdem ist er sicher, daß die hier kursierenden Todeszahlen „weitgehend der natürlichen Mortalität“ entsprechen.
Somit bestehen auch zehn Jahre nach Tschernobyl für Becker – und mit ihm wohl für die ganze Zunft – „über die Zahl der bisher belegbaren „Strahlentoten“ kaum noch Unklarheiten: 26 Personen starben kurz nach dem Unfall an akutem Strahlensyndrom; vier durch konventionelle Verbrennungen und herunterfallende Gebäudeteile; ein Arbeiter starb an einem Herzinfarkt.“ Es bleiben 31 Tote.
Wenig Tote, kaum nachweisbare Langzeitwirkungen, auch beim Gefahrenpotential selbst möchte die Atomgemeinde Tschernobyl ins rechte Verhältnis rücken.
Oben erwähnter Joachim Grawe hatte schon 1988 empfohlen, dafür nicht den möglichen Unfall zum Maßstab zu nehmen: „Sonst müßte man Streichhölzer verbieten; achtlos weggeworfen, haben sie schon verheerende Waldbände verursacht und erst vor wenigen Monaten beim Brand im Londoner U-Bahnhof King's Cross 31 Tote gefordert.“
31 Tote – wer sollte deswegen die gesamte Atomenergie zu Grabe tragen?
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