Zerfließe, mein Herze

■ Bach als Denkangebot: Großartige „Johannespassion“ in St. Ansgarii

Natürlich darf man es fragwürdig finden, die Passionen von Johann Sebastian Bach mit einem Riesenchor zur Aufführung zu bringen. Denn die Klangmassen der Romantik,provozieren in den großen Räumen der bürgerlichen Musikkultur eher ein Gemeinschaftserlebnis religiöser Erhabenheit. Sie entsprechen ganz sicher nicht dem „docere, movere und delectare“ (lehren, bewegen und unterhalten), den Grundprinzipien der Bach'schen Bibelvertonungen, die als Auslegung der Schrift verstanden wurden. Nun muß sich einerseits jeder Dirigent entsprechende aufführungspraktische Kenntnisse verschaffen und sie umsetzen, der Leiter einer kirchlichen Kantorei kann aber nicht so einfach eine große Menge seiner SängerInnen rausschmeißen. Daß das auch gar nicht sein muß, bewies nun zum wiederholten Male Wolfgang Mielke als Leiter der Kantorei St. Ansgarii anläßlich zweier beispielhafter Aufführungen der Johannes-Passion von 1724 und der Fassung von 1725 Johann Sebastian Bach.

Mielke führte den fast hundert Personen starken Chor zu einer Schlankheit und Homogenität, die diesen alle kammermusikalischen Anforderungen mühelos ausführen ließ. Nie lief der Chor Gefahr, die historischen Instrumente zu übertönen. Das Orchester seinerseits – Norddeutsches Barock-Collegium – überzeugte durch expressive und plastische Motivgestaltung, traumhaft schönes Auskosten der Klangfarben zum Beispiel der Viola d'amore in „Betrachte meine Seel'“ und eine Virtuosität, die dem Ganzen einen ungemein differenzierten Grundimpuls gaben.

Mielkes Konzeption und sein entsprechendes Dirigat schien unterschiedliche Räume und Zeiten zu erstellen. Äußere Aktion und innere Entwicklung hielten sich eine perfekte Waage, von der vorwärtspeitschenden Dramatik vor der Kreuzigung über die psychologischsensible Reflexion der Arie „Ach, mein Sinn“ bis zu einem Heraustreten aus dem Ablauf in einen zeitlosen Raum: dies in der irrreal schön gesungenen Arie „Zerfließe, mein Herze“. Daß das gelingen konnte, ist natürlich auch maßgeblich der vibratolos und instrumental, dabei mit höchstem Ausdruck singenden Heike Hallaschka zuzuschreiben.

Auch in die anderen SängerInnen konnte Mielke Vertrauen haben, vor allem in den charismatisch gestaltenden Markus Brutscher als Evangelist: stimmlich meisterhaft und durchweg aufregend, wie er auf einem imaginären rhythmischen Grundimpuls die Rhetorik entfaltete. Selten zu hören, was ihm gelang: die Geschichte in ihrer ganzen Spannung und Unerhörtheit quasi neu erstehen zu lassen. Die Christus-Worte sang Peter Frank unsentimental und ergreifend, Matthias Gerchen gestaltete die Baß-Arien klangschön und sensibel. Auch die Altistin Elisabeth Graf fiel dagegen nicht ab.

Auf eine mögliche Überlegung, ob denn in der Osterzeit immer wieder diesselben Passionen aufgeführt werden müssen, ist nach dieser ebenso musikalischen wie geistigen Qualität nur zu antworten: sie müssen. Dies umso mehr, als der reflexionsfreudige und rührige Wolfgang Mielke diesesmal ein besonderes „Denkangebot“ machte: am ersten Abend wurde die von Bach korrigierte Fassung gespielt, die andere theologische Aspekte setzt. Nur mit einem solchen Angebot wird einmal anschaulich, daß Musik Theologie, daß sie „theonome Kunst“ ist, wie es der Bach-Forscher Ulrich Meyer nannte.

Ute Schalz-Laurenze