Die ganz alltägliche Aids-Epidemie

■ Jugendliche verdrängen das Risiko der Infizierung – Der Etat für Aufklärungs- Kampagnen sinkt kontinuierlich. Aids-Spots im Kino will keiner mehr sehen

„Gib Aids keine Chance“ – jahrelang sprang einen der Slogan von jeder Plakatwand an. Gemütliche Kinoabende wurden von der moraltriefenden Aids-Werbung eingeleitet, und jeden Abend flimmerte Thomas mit Gabi, mit Bettina und mit Aids über den Fernsehbildschirm. Aids gibt es immer noch, aber man spricht nicht mehr darüber.

In Berlin, so der Leiter des Aids-Zentrums am Robert-Koch- Institut, Dr. Osamah Hamouda, infizieren sich jährlich etwa 400 Leute mit dem HI-Virus, in der ganzen Bundesrepublik sind es rund 2.000. Hauptsächlich Jugendliche, vor allem homosexuelle, stecken sich an: „Die jungen Schwulen sind einfach neu in der Risikogruppe. Die Älteren sind schon infiziert oder haben gelernt, mit der Gefahr umzugehen“, erklärt Hamouda.

Aber was schon seit Jahren aus den USA gemeldet wird, stellen jetzt auch Beratungsstellen in Berlin fest: Die Angst vor Aids wird von einer neuen Sorglosigkeit verdrängt. Cornelia Wrobel, Beraterin im „Aids-Forum“: „Zehn Jahre nach Aids wird wie wild drauflosgevögelt, ohne Gummi. Alles unter dem Motto ,Mir wird schon nichts passieren.‘“ In der Schwulenszene, berichtet Eddie Schnalke vom „Aids Projekt Pluspunkt“, ist der Gummi inzwischen auch zu einem Symbol für die tödliche Bedrohung, für den moralischen Zeigefinger, für die vielen verstorbenen Freunde geworden. „Nach all der Trauer kann ich mir vorstellen, daß die Leute das Bedürfnis nach unbelastetem Spaß haben“, erklärt Schnalke das veränderte Sexverhalten.

Auf der Infektionsliste stehen die Schwulen an erster Stelle, danach kommen Drogenabhängige, die sich über Spritzen das HI-Virus holen. Aber auch wenn die Gesellschaft lang genug versucht hat, sich Aids als reines Schwulen- und Junkieproblem vom Hals zu halten – auch andere stecken sich an. Das Risiko, sich bei Sex mit Männern zu infizieren, ist dreimal so hoch wie bei Sex mit Frauen. Deshalb, so Cornelia Wrobel, steige die Zahl der infizierten Frauen rasant. Drei Fünftel der Infizierten aus der sogenannten heterosexuellen Normalbevölkerung sind mittlerweile Frauen. Wrobel, die in Schulen Projekttage zum Thema Aids veranstaltet, ist von der Verdrängungsleistung der „Normalbevölkerung“ entsetzt. „Es gibt noch so viele Leute, die absolut nichts wissen über Aids“, schildert sie ihre Beratungserfahrungen.

Dabei gibt es noch die allseits bekannten Fernseh- und Kinospots – „Sie sind nur auf ungünstigere Sendetermine verschoben worden“, sagt Dr. Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA), die für die Spots verantwortlich ist. Die Zuschauer wollen jedoch die Aufklärungsbotschaft auch nicht mehr sehen. Nach der regelmäßig durchgeführten Media-Analyse fiel der Anteil der „Zuschauerkontakte“ von 313 Millionen 1992 auf 180 Millionen im letzten Jahr. Und das, obwohl 1995 mehr Werbespots gesendet wurden als 1992. Die Zuschauer schalten einfach ab.

Auch der Gesamtetat der Aids- Aufklärung beim BZGA wird kontinuierlich geschröpft. Pro Jahr gab es seit 1987 5 Millionen Mark weniger für die Information; der Etat sank von 50 Millionen auf aktuell 20 Millionen Mark. Barbara Junge