: Lauter staunenswerte Dinge
Wie sind diese seltsamen Sachen bloß zu uns gekommen? George Ortiz zeigt Schätze seiner Antikesammlung im Berliner Alten Museum ■ Von Katrin Bettina Müller
Mit Staunen fängt die alte Kunst uns ein. Zehn kaum daumennagelgroße Köpfe aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. liegen in einer Vitrine im ersten Saal der Ausstellung „Faszination der Antike“. Vermutlich stammen sie aus Mesopotamien, dienten möglicherweise als Amulette der Abwehr böser Geister. Was weiß man schon?! So bleibt das Staunen, daß etwas so Winziges den Weg durch die Jahrtausende gefunden hat und uns in seiner physiognomischen Vielfalt und karikierenden Übertreibung so nahe scheint.
„Faszination der Antike“: Ergriffen von ihrer Menschlichkeit erklärt der Kunstsammler George Ortiz den Artefakten vergangener Kulturen seine Liebe. Ende der vierziger Jahre entdeckte der Enkel eines bolivianischen Zinnkönigs und Sohn eines Diplomaten in der Kunst Griechenlands sein Ideal des Humanismus. Ihre Schönheit befriedigte seinen Hunger nach Wahrheit, den weder Philosophie noch Marxismus hatten stillen können. In keinem Interview versäumt er den direkten Weg der Intuition zu betonen, die ihn und die Stücke seiner Sammlung ohne den Umweg über Experten zusammengebracht hat.
Sein Wunschbild eines idealisierten Menschentums teilt sich in den 300 Exponaten seiner über 1.000 Objekte umfassenden Sammlung mit, deren Inszenierung er nicht aus der Hand gibt. Da stellt er zu dem milde lächelnden Kopf einer griechischen Kore eine kleine stierköpfige Figur, und schon scheinen wir mit dem Mädchen die Symphatie für die possierlichen Gesten des winzigen Minotaurus zu teilen: Die Miniatur mildert die erhabene Monumentalität des skulpturalen Fragments. Nicht die antike Welt der Götter und Heroen stellt Ortiz uns vor, sondern eine der Menschen. Die kleinen Objekte, ob Schmuck, griffige Idolfiguren oder Handwerkszeug, wie die goldenen Webgewichte aus Troja, bringen uns ihre Benutzer näher. Als Vorstellungsrahmen dient weniger die Architektur ägyptischer Grabmäler, griechischer Tempel und römischer Paläste, als vielmehr der Alltag zwischen Werkstatt und Hausaltar.
In einer kleinen Bronzegruppe, griechische Votivgabe, versucht ein Hirte, das Lamm dem Wolf zu entreißen, der wiederum von einem Hund gebissen wird: Gerade die etwas ungelenke Komposition der verschachtelten Gruppe rührt an. Ortiz setzt auf die anrührende Geste, den liebevollen Blick, der auch in Patina und Fragment den Anhauch der Zeit verspürt: Daraus baut er seine Brücken zwischen Ägyptern, Sumerern, den Epochen der griechischen Kultur, Römern und Artefakten aus Afrika, Südamerika, Pazifik.
Ein marmorner Vogel aus der frühen Bronzezeit, zugeordnet der kykladischen Epoche Griechenlands, überrascht in der Doppelheit der einfachen Reduktion und der puren Materialität des Steins. Ähnlich „modern“ wirkt eine ägyptische „Schminkpalette“, aus Stein geschnitten, die mit einem einzigen Bogen die Form eines Perlhuhns andeutet: Über die Jahrtausende hinweg, in denen sich Schrift- und Zeichensysteme fast bis zur Unübersetzbarkeit änderten, blieb eine solche Chiffre der Abstraktion von der Natur eindeutig. Mit der Einbeziehung dieser Stilformen verrät Ortiz das Auge eines Sammlers, der, anders als die Historiker des 19. Jahrhunderts, schon durch die ästhetische Schule der modernen Abstraktion gegangen ist. Er spielt nicht mehr abstrakte Archaik gegen figürliche Stilisierung aus und verläßt die hierarchische Ordnung von primitiven Idolen und verfeinerter Hochkultur.
Doch sein Schönheitsempfinden als oberstes Kriterium löst die Objekte aus ihrem historischen Zusammenhang. Dies kann sich ein Sammler erlauben und ein Museum als Experiment wagen, um ein unbefangenes Sehen zu üben. Denn tatsächlich sind wir heute durch die Masse der Informationen oft blind geworden für ästhetische Qualitäten. Aber als Generalprobe für die Struktur der Sammlung antiker Kunst auf der Museumsinsel, wie Dietrich Wildung, Direktor des Museums für ägyptische Kunst, die Ausstellung „Faszination der Antike“ sehen will, ist die Reduktion auf Stilkritik und Schönheitsempfinden hoffentlich nicht ernst gemeint. Denn sie idealisiert die Kunst wieder als Ort des Guten, Schönen und Wahren und abstrahiert von ihren Funktionen, der Repräsentation von Macht, Ideologie und Glauben.
Die Intimität einer privaten Sammlung äußert sich auch in den vielen Fragezeichen, die Ortiz bezüglich der Herkunft der Objekte offenlassen muß. Da gibt es den „Prinz Siddharta?“, ausgezeichnet von einer barocken Lockenpracht, das marmorne Gesicht zerbrochen und wieder zusammengesetzt: stilistisch vagabundierend zwischen buddhistischer Kultur und einer importierten Bildsprache der hellenistischen Welt. Ortiz macht aus der Not der Herkunftsangaben eine Tugend, indem er in der Kataloglegende den möglichen Kulturaustausch längs der Handelswege skizziert und Lücken der Geschichtsschreibung benennt. So wird aus der stilistischen Uneindeutigkeit des Kopfes fast eine Parallele zum Schicksal des nepalesischen Prinzen Siddharta, der auf den Thron verzichtete und asketischer Wanderprediger wurde.
„Faszination der Antike. The George Ortiz Collection“. Altes Museum Berlin, Am Lustgarten, noch bis zum 30. Juni.
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