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Der verzauberte Torjäger

Warum selbst ein schlichtes 1:2 zwischen Bayer Leverkusen und Bayern München ein tolles Spiel sein kann. Neun gute Gründe  ■ VonChristoph Biermann aus Leverkusen

Gutes Spiel das! Und das zu sagen gibt es neun gute Gründe. Hier sind sie.

1. Hin und her: Ständig ging es hin und her. Auf dem Notizblock sind fast zwanzig Torchancen verzeichnet, was enorm viel ist. Der Anteil beider Mannschaften daran war ausgeglichen. Drei Chancen wurden verwandelt, was dann allerdings nicht so viel ist.

2. Wegmann, Jürgen: Das Spiel hatte in Leverkusens Stürmer Ulf Kirsten einen Tragöden. Seit vier Monaten schon hat der kein Tor mehr geschossen und in der Zwischenzeit manch beste Chance versemmelt. Gegen Bayern hatte er eine, die war sogar allerbestens. Aber in jenem Moment, so wußte sein Trainer Ribbeck hinterher zu berichten, hatte der verzauberte Torjäger plötzlich das Gefühl, er würde sechs Meter vom Tor entfernt von einem Gegner bedrängt. Dabei war er ganz allein – und schoß doch weit übers Tor. Außerdem traf er später noch an den Innenpfosten, wo dem Kopfball wirklich nur Millimeter fehlten, um ins Tor zu springen. Irgendwann knickte Kirsten mit dem Fußgelenk um, und in der 72. Minute mußte er ausgetauscht werden. Was an die Sentenz des großen Torjägers und Fußballphilosophen Jürgen Wegmann erinnerte: „Erst hast du kein Glück, und dann kommt auch noch Pech dazu!“ Ein Satz, der immer wieder als Beweisstück der Dummheit von Fußballern herangezogen wird, in Wirklichkeit aber durch seine Weisheit besticht.

3. Generator: Beim FC Bayern fehlten Scholl, Sforza, Zickler, Hamann und Strunz, was gar nicht richtig auffiel. Bei Leverkusen fehlten die Verteidiger Wörns und Happe, was ganz schön auffiel und allerlei Defensivaktionen wie von einem Zufallsgenerator gelenkt erscheinen ließen.

4. Heroenfußball: Daß Borussia Dortmund Heroenfußball spielt, hat uns Volker Finke, dem wir immer gerne zuhören, neulich gesagt. Für Bayern gilt das wohl auch. Und der größte Heroe heißt Lothar Matthäus. Das erstens sowieso und zweitens gerade jetzt, weil er sich durch Wüsten des Schmerzes wieder an seine eigene Leistungsfähigkeit herankämpft. In Leverkusen schoß er am Samstag den Siegtreffer. Sein letztes Bundesligator hatte er am 26. November 1994 ebenfalls in Leverkusen erzielt, und ein Jahr zuvor wiederum ebendort ein „Tor des Jahres“. Was sagt uns das? Nichts! Aber eine schöne Geschichte ist es doch.

5. Sprechchor: Als der Angriff sich noch entwickelte, an dessen Ende besagtes Tor von Lothar Matthäus stand, befand sich das Spiel in einer Zwischenphase, in der niemand wirklich mit einem Tor rechnete. Die Anhänger des FC Bayern waren gerade mit Sprechchören beschäftigt, die mehr als zwei Dekaden überlebt haben, weil sie sich so toll reimen: „Wen wollen wir fressen? – Rot- Weiß Essen! – Wen wollen wir verschmausen? – Rot-Weiß Oberhausen!“ Dann fiel das Tor. Rot-Weiß Essen besiegte übrigens am Freitag abend in einem Spiel der Regionalliga West-Südwest den 1. FC Saarbrücken mit 1:0. „Rot wie Blut, weiß wie Schnee, das ist unser RWE!“

6. Rudi: Der Vorverkauf für das Abschiedsspiel von Rudi Völler am 21. Mai hat begonnen. Dann darf jeder, der nur ein wenig Fußballsentimentalist ist, die Taschentücher herausholen und seine Tränen trocknen. Ganz grausam wird jener Tag aber für Erich Ribbeck, der dann den besten und wichtigsten Spieler seiner Mannschaft verliert. Am liebsten würden seine Bayer-Youngsters Ramelow, Neuendorf, Rietpietsch und wie sie alle heißen, doch jedesmal Rudi Völler anspielen. Weil das nicht geht, spielen sie ihn nur jedes zweite Mal an.

7. Maskottchen: Der junge Mann, der seine Wochenenden in einem Löwenkostüm und einem Trikot mit der Nummer 33 verbringt, auf dem „Bayer Löwe“ zu lesen steht, sieht aus, als könnte er ein Cousin von Rudi Völler sein.

8. Porno: Mein Freund Thomas hat neulich die verblüffend richtige Beobachtung gemacht, daß Andreas Bodden, der Stürmer von München 1860, wie ein Pornodarsteller aussehen würde. Ich finde, Oliver Kahn, der in Leverkusen ganz ausgezeichnet hielt, ja mitunter sogar spektakulär, auch.

9. Mannschaftsgeist: Von Otto Rehhagel, dessen nach all den langen Berufsjahren immer noch unglaublich jungenhaft frische Ausstrahlung ihn eigentlich schon allein vor all den niederträchtigen Vermutungen um Defizite seiner Person feien müßte, sagte auf die Frage nach dem vermeintlich neuen Harmoniegefühl in seiner Mannschaft erneut etwas sehr Schönes: „Wir haben neuen Mannschaftsgeist, wenn wir gewinnen. Wenn wir verlieren, haben wir den alten.“ Außerdem hat er dabei wieder ganz prima mit den Augen gerollt.

FC Bayern München: Kahn - Matthäus - Kreuzer, Helmer - Frey, Babbel, Herzog, Nerlinger, Ziege - Klinsmann (84. Kostadinow), Papin (72. Witeczek)

Zuschauer: 26.500 (ausverkauft)

Tore: 0:1 Nerlinger (40.), 1:1 Sergio (41.), 1:2 Matthäus (54.)

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