: Wer arbeitslos war, verdient 300 Mark weniger
■ Ein Chemieunternehmen bei Celle stellte 170 Erwerbslose ein – unter Tarif
Adelsheidsdorf (taz) – 170 Neueinstellungen in den vergangenen zwei Jahren, darauf könnte eine Firma mit insgesamt 950 Beschäftigten mit Stolz verweisen. Doch es ist keine falsche Bescheidenheit, wenn die Geschäftsleitung der Stankiewicz GmbH vor den Toren der niedersächsischen Stadt Celle hierüber lieber nicht sprechen möchte. Der Zulieferbetrieb für die meisten deutschen Autohersteller – Spezialist für Schallisolation und Korrosionsschutz – hatte 1992 nämlich die Belegschaft zunächst um 150 Stellen verringert. Seit 1994 wurden dann 170 neue Mitarbeiter neueingestellt – Langzeitarbeitslose zu 90, beziehungsweise 95 Prozent des Tariflohns.
Grundlage der ungewöhnlichen Beschäftigungspraxis ist der vor zwei Jahren zwischen der IG-Chemie-Papier-Keramik und dem Arbeitgeberverband der chemischen Industrie vereinbarte Tarifvertrag. Danach bekommen ehemalige Langzeitarbeitslose im ersten Jahr nur 90 Prozent des üblichen Lohns. Wer weniger als neun Monate erwerbslos war, erhält 95 Prozent.
„Wir hätten vor zwei Jahren auch ohne die abgesenkten Tarife 170 neue Leute eingestellt, weil wir die Aufträge wieder bekamen, die zwei Jahre zuvor durch die Krise der Autoindustrie weggebrochen waren“, sagt Personalchef Hans- Jürgen Schmidt. Nur wegen der Arbeitslosenregelung stelle „kein Arbeitgeber neue Leute ein“, ist auch Stankiewicz-Betriebsratsvorsitzender Gerhard Thies überzeugt. „Als bei uns mit unterschiedlichem Lohn für gleiche Arbeit begonnen wurde, hatten wir schon Bedenken wegen des Betriebsklimas. Doch bislang hat es keine Probleme gegeben. Es werden viele Ungelernte eingestellt, auch viele Aussiedler. Die sind froh, überhaupt was zu bekommen“, so Thies.
Statt 18,70 Mark pro Stunde bekommen Langzeitarbeitslose in der Entgeltgruppe 2, in die die bei Stankiewicz angelernten neuen Arbeitskräfte zumindest eingruppiert sind, nur 16,83 Mark. So verdienen sie mit 2.745 Mark Bruttoarbeitslohn rund 300 Mark weniger als ihre Kollegen mit normalem Tariflohn.
„Nennen wir es lieber abgesenkte Einstellbezüge. ,Unter Tarif‘ hört sich doch so negativ an. Es ist doch immer noch mehr als das Arbeitslosengeld“, versucht Claus Clemensen, Geschäftsführer beim niedersächsischen Chemie-Arbeitgeberverband, mögliche Kritik in die richtigen Bahnen zu lenken. Er ist von dem Modell ganz begeistert, wenngleich er auch zugeben muß, daß bislang noch nicht so recht davon Gebrauch gemacht wurde. Deshalb seien „leichte Modifikationen“ nötig: Bei befristeten Verträgen sollten künftig alle Arbeitnehmer, nicht nur die ehemaligen Langzeitarbeitslosen, weniger als den normalen Tariflohn bekommen.
Bezahlung unterhalb des Tarifs als Wunderwaffe – was Arbeitgeber anderer Branchen vehement fordern, entpuppt sich in der Chemieindustrie als Rohrkrepierer: Seit 1994 wurden solcherart nur 2.000 Billigarbeitsplätze geschaffen, im selben Zeitraum verschwanden in der westdeutschen Chemieindustrie knapp 100.000 reguläre Stellen. Derzeit sind hier noch 605.000 Menschen beschäftigt. In Ostdeutschland gelten die „abgesenkten Einstellbezüge“ übrigens nicht. Dort gibt es für alle Chemiebeschäftigten „abgesenkte“ Bezüge: derzeit 82 Prozent vom Westtariflohn. Joachim Göres
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen