■ Monika Hauser gründete in Zenica das Frauentherapiezentrum Medica. Mit der Ärztin sprachen über die Grenzen ihrer Arbeit Karin Gabbert und Petra Welzel.: "Nichts war mehr gültig"
taz: Warum sind Sie Gynäkologin geworden?
Monika Hauser: Seit ich denken kann, ist das Thema Gewalt gegen Frauen für mich allgegenwärtig. Mit meiner Arbeit als Frauenärztin wurde mir bewußt, wie hautnah ich an dem Thema dran bin.
Und warum sind Sie dann Ende 1992 nach Bosnien gegangen?
Im Herbst 1992 veröffentlichte der Stern einen aufsehenerregenden Bericht über die Vergewaltigung bosnischer Frauen. Ich fand diese Art der Berichterstattung empörend, die Darstellung von blutenden, weinenden Frauen als reines Opfer. Dennoch hat mich das gleichzeitig mobilisiert: Ich wollte mithelfen, diese Zustände zu ändern.
Sie haben das Medica-Projekt zunächst allein mit bosnischen Frauen und ohne einen Pfennig aus dem Boden gestampft. Haben Sie nie daran gezweifelt, daß es klappt?
Niemals. Im ganzen Jahr 1993 hatte ich nicht den leisesten Zweifel am Gelingen. Anfang 1993 erlebten wir und ich den Krieg in Zenica nur indirekt, durch die Erzählung der Flüchtlinge. Die Stadt quoll über von Flüchtlingen, war aber selbst noch unzerstört. Der Granatenbeschuß begann erst im Frühling 1993 durch die HVO, die Truppen des kroatisch-bosnischen Verteidigungsrats. Das Projekt heute, die Grundphilosophie unserer Arbeit, die Häuser in Zenica und Visoko, all das entstand in diesem Jahr. Wir wußten, wir schaffen es, wir hatten das Gefühl großer Kraft. Und ich wollte es schaffen, weil dieser Krieg und das Nichtstun des Westens mich enorm wütend gemacht hatten.
Woher bekamen Sie später das Geld für den Projektaufbau?
Im Februar 1993 fuhr ich zurück nach Deutschland, um Geld zu beschaffen. Ich hoffte, daß uns das Hilfsprojekt Medico unterstützen würde, aber der Chef sagte mir sinngemäß: Wir Linken haben zur Zeit keinen Standpunkt zu Bosnien und wollen deshalb euer Projekt nicht unterstützen. Nachdem ich das verdaut hatte, dachte ich: Dann mache ich Medica eben alleine, und so ist auch der Name entstanden. Wenig später bekamen wir ganz unbürokratisch und schnell eine Viertelmillion Mark aus einem Hilfsfonds für vergewaltigte Frauen, den die Frauen der Fernsehsendung Mona Lisa initiiert hatten.
1993 lebten sie das ganze Jahr in Bosnien, 1994 und 1995 nur teilweise. Vor drei Monaten hatten Sie einen physischen und psychischen Zusammenbruch. War die Arbeit in Bosnien über Ihre Kräfte gegangen?
Mich hat vor allem die Kälte in Deutschland krank gemacht. Immer wenn ich zwischendurch aus Bosnien hierherkam, hat mich die Ignoranz gegenüber der Logik dieses Kriegs fertig gemacht, und die macht mich heute noch fertig. Aufgrund von ideologischen Vorbehalten wollten viele Menschen nicht sehen, daß sich das Leben dort auf die Frage reduzierte: Nichtmoslem oder Moslem, Leben oder Tod.
Wie sahen Ihre Arbeitstage in Zenica denn aus?
Manchmal saßen wir vormittags zusammen im Schutzkeller und erzählten uns von unserem Leben. Wenn das Entwarnungssignal kam, gingen wir hoch in unsere Ambulanz und arbeiteten weiter. Abends veranstalteten wir manchmal Feste. In den verrücktesten Situationen haben wir eine Party gemacht. Weil es keinen Strom gab, holten wir Kerzen, die Frauen sangen zur Gitarre, wir tanzten zusammen. Das ist in Deutschland undenkbar. Hier lernt man in Seminaren, Grenzen zu ziehen zu den Opfern sexuellen Mißbrauchs, damit keine Sekundärschäden entstehen.
Das klingt, als ob Sie Distanz für etwas Unerwünschtes hielten.
Die verwischte sich in Zenica. Wir lebten alle in derselben Kriegssituation. Wir redeten über unsere Angst, um sie nicht runterzuschlucken. Das machte uns Mut. Und wir erlebten, daß wir dieser Situation keineswegs ohnmächtig gegenüberstehen, daß wir ein Projekt errichten, Frauen aus den katastrophalen Bedingungen in den Flüchtlingslagern herausholen und in den geschützten Raum von Medica bringen können. Zu sehen, wie stille, apathische Kinder plötzlich wieder lebendig wurden und herumtobten – das war es, das war es!
Keine Grenzen zu ziehen, war für Sie kein Problem?
Nein, gerade das Zusammensein mit den Frauen hat mir so viel Kraft gegeben. Das war genau das Frauenprojekt, das ich mir hier immer gewünscht hätte: viel Nähe und Dichte.
Warum lassen Sie dort etwas zu, was hier als unprofessionell gilt?
Ich versuche auch hier, mit meiner Person präsent zu sein, wenn ich eine Frau behandle. Meine Patientinnen sollen wissen: „Ich darf aussprechen, daß mir Entsetzliches passiert ist, mir wird geglaubt.“ In Bosnien, glaube ich, war es wichtig für die Frauen, daß eine von außen Solidarität zeigte.
Warum?
Sie fühlten sich – ganz zu Recht! – von der ganzen Welt verlassen. Als sie monatelang in Flüchtlingslagern lebten und einen täglichen Kampf um Lebensmittel führten, mußten sie ihre Kriegserlebnisse verdrängen, um zu Überleben. Als sie zu uns kamen, konnten sie nicht sofort über ihre traumatischen Erlebnisse reden, dafür brauchten sie eine ganze Weile Zeit. Sie waren sehr fern von der Welt und von anderen Menschen. Die Psychotherapeutin Dr. Ursula Wirtz aus Zürich, die 1993 bei uns in Zenica war, beschreibt diesen Zustand von extrem traumatisierten Menschen so: Sie leben in einer anderen Realität, die für sie die reale ist. Sie können nicht kommunizieren über das, was ihnen geschehen ist, denn es gibt keine Sprache dafür.
TherapeutInnen solcher Menschen erleben eine Begegnung mit dem lebendigen Tod, sagt Ursula Wirtz auch.
Ja, da ist dieser leere Gesichtsausdruck. Ich komme in ein Flüchtlingslager, eine Turnhalle, einen Saal und sehe irgendwo eine Frau kauern. Ich spreche mit ihr, aber sie ist nicht erreichbar. Diese unüberbrückbare Ferne zu anderen Menschen und zur Welt habe ich oft erlebt. Die Frau kann an die Sicherheit menschlicher Beziehungen, an diese Welt, die das alles zugelassen hat, nicht mehr glauben. Die einfachsten Gesetze des Zusammenlebens brachen für sie innerhalb von Sekunden zusammen.
Wenn Sie an Ihre Arbeit in Deutschland denken, was war in Bosnien anders?
Über 90 Prozent der Vergewaltigungsopfer, die wir bei Medica behandeln, sind muslimische Frauen. In Essen habe ich Frauen betreut, die Opfer von Gruppenvergewaltigungen geworden sind. Über so etwas zu sprechen, ist auch in Deutschland für betroffene Frauen noch sehr schwer. Da sehe ich keinen großen Unterschied zu Bosnien. In Bosnien haben die Frauen aber eine Holocaust-Situation überlebt. Todesangst gehörte zu ihrem Lageralltag, sie konnten sich niemals zurückziehen, sie wurden zu ständigen Augenzeuginnen von Folter und Mord. Sie verloren Familienangehörige und Freunde, alles, was bisher Gültigkeit hatte und ihnen Sicherheit verlieh. Das macht diese massive Traumatisierung aus.
Kann man eine solche massive Traumatisierung überhaupt erfolgreich behandeln?
Manchmal ist es eine Gynäkologin, der sich eine Frau während einer Untersuchung anvertraut. Manchmal ist es eine Psychologin aus dem Team. Aber die verletzte Einheit von Leib und Seele kann man nur in einer einheitlichen Behandlung wiedererlangen. Für die Frauen selber ist es sehr wichtig, mit anderen Traumatisierten Kontakt aufzunehmen. Für sie ist es erleichternd zu wissen: Ich bin hier nicht allein. Grundsätzlich aber müssen wir bei Medica von Krisenintervention sprechen. Als die Serben Srebrenica überrannten und Tausende umbrachten, war bei vielen Frauen der ganze Therapieerfolg dahin. Wir fingen wieder von vorne an.
In der Ambulanz wird nie eine Frau abgewiesen. Solange Frauen warten, wird gearbeitet. Wie ist das zu machen?
Die beiden Gynäkologinnen, die jetzt dort arbeiten sagen, sie können an einem Nachmittag ungefähr 30 Frauen behandeln, ohne sie abzufertigen. Vielleicht wäre es aber tatsächlich besser, weniger Frauen zu behandeln, denn wenn eine Frau weiß, daß da noch zwanzig andere sitzen, ist es schwer für sie, sich zu öffnen. Natürlich ist das oft eine Überforderung. Alle Teamfrauen gehen über ihre Grenzen, und nicht wenige fühlen sich inzwischen ausgebrannt.
So unproblematisch ist es also doch nicht, ständig die eigenen Grenzen zu mißachten.
Irgendwann sind die Kräfte einfach am Ende. Aber das liegt auch daran, daß sich an der politischen Situation nichts wirklich verändert. Der Umstand, daß die bosnischen Frauen keine Gerechtigkeit erleben, daß niemand ausspricht, was tatsächlich geschehen ist, daß das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag eine Farce ist und der Vertrag von Dayton eine mehrfache Farce, das raubt die letzte Kraft. Aber nur wenn in Den Haag ausgesprochen werden kann, was geschehen ist, kann es zu einer Heilung kommen.
Bedeuten die Preise, die Sie für Ihre Arbeit bekommen haben, für Sie einen Ansporn oder noch mehr Belastung?
Die drei Preise habe ich in dem guten Gefühl angenommen, sie als Anerkennung unserer Arbeit zu sehen. Normalerweise wird Frauenarbeit doch nur als Caritas gesehen. Auch für die bosnischen Frauen bedeuteten die Preise eine Anerkennung ihrer Arbeit. Dennoch hatten sie auch eine Alibifunktion: „Dir geben wir diesen Preis, aber sonst wollen wir mit dem Thema nichts zu tun haben.“ Die Presse hat nur das Thema Vergewaltigungen ausgebeutet. Vielen Journalisten ging es nicht um die Frauen, sondern nur um ihre schrecklichen Geschichten.
Ich habe trotzdem weiter Interviews gegeben. Zum einen, um bekannt zu machen, was dort passiert, zum anderen, weil ich sonst geplatzt wäre. Der Krieg in Bosnien war hier nur dann ein Thema, wenn wieder etwas besonders Scheußliches passiert ist, zum Beispiel die Massaker in Srebrenica. Was mit den Frauen passierte, wie sie mit ihren Traumata ein Leben lang umgehen müssen, das war nicht gefragt. Für das normale tägliche Grauen hat sich seit 1994 niemand mehr interessiert.
Sie wollen den Frauen helfen, sie behandeln, aber auch politisch intervenieren, die Welt wachrütteln. Warum haben Sie so hohe Ansprüche an sich selbst?
Das stimmt, ich habe an mich selbst große Erwartungen. Ich bin auch tatsächlich nicht mehr korrekt mit mir umgegangen, sonst hätte ich keinen Zusammenbruch gehabt. Zeitweise habe ich meine Ohnmacht mit dem Gefühl kompensiert, ich kann etwas bewegen. Und ich glaube tatsächlich, daß solche Projekte wie Medica etwas Neues geschaffen haben. Und zwar in dieser Kriegssituation ein multiethnisches Frauenprojekt der ethnizistischen Logik zum Trotz zu realisieren. Zudem hat sich bei den Mitarbeiterinnen ein neues feministisches Bewußtsein entwickelt, durch die gemeinsame Arbeit und durch die langsam beginnende Analyse des Patriarchats in Krieg und Frieden.
Hat sich auch Ihr Bewußtsein verändert?
Ich war gezwungen, über Nationalismus und patriarchale Strukturen in Bosnien nachzudenken. Ich mache mir nichts vor: Wenn ein wie auch immer gearteter Frieden kommt, werden die patriarchalen Strukturen sofort wieder durchschlagen. Die Männer, die im Militär etwas zu sagen hatten, werden wieder obenauf schwimmen, die Frauen müssen gucken, wo sie bleiben.
Vertritt die Regierung in Saravejo in irgendeiner Weise Fraueninteressen?
In Sarajevo gibt es nur ganz wenige Frauen im Parlament, ein Frauenministerium wäre zur Zeit undenkbar. Auch nimmt in den Familien durch die heimkehrenden Soldaten die Gewalt gegen Frauen und Kinder wieder zu. Es wird die zukünftige Arbeit von Medica sein, diese Gewalt öffentlich zu machen, zu einer Zeit, in der niemand etwas davon wissen will. Auch über die Opfer der Kriegsverbrechen wird bald niemand mehr reden wollen. Die Männer des bosnischen Staates werden schnell eine sogenannte Normalität aufbauen wollen, den wirtschaftlichen Aufbau organisieren, ihre Macht konsolidieren.
Sie sprachen vorhin vom Dayton-Vertrag als mehrfacher Farce. Warum?
Die Kriegsverbrecher von der HVO sitzen jetzt in den Cafés von Zenica, und die von ihnen vergewaltigten Frauen hetzen nach Hause, wenn sie ihre Peiniger sehen. Sie sind die Zeuginnen, die die Täter nach Den Haag bringen könnten, also sind sie in Gefahr. Früher wurden diese Frauen durch die Kriegsfront vor ihnen geschützt. Erst die Aufhebung der Front und die Schaffung der bosnisch-kroatischen Föderation hat sie paradoxerweise schutzlos gemacht. Da sehe ich meinen inneren Auftrag: zu verhindern, daß sich das große Schweigen ausbreitet. Was diese Krippendorfs, Handkes, diese Männer hier intellektuell distanziert beziehungsweise propagandamäßig quatschen, hat nichts, absolut nichts mit der bosnischen Realität zu tun.
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