piwik no script img

Man redet halt nicht gern darüber

Englands bessere Kreise essen jetzt Wildschwein, Strauß und Känguruh. Rindfleisch zum halben Preis ist ein Renner. Zu den Viehauktionen kommen inzwischen weder Ochs noch Stier  ■ Aus Cambridge Dominic Johnson

Wer zur Fleischerei „Lay & Robson“ in der Altstadt von Cambridge geht, braucht sich um Rinderwahnsinn nicht zu sorgen. „Wildschwein – Strauß – Känguruh“ wirbt die Schiefertafel vor der Tür. Drinnen liegen, tiefrot in glänzend silbernen Vitrinen, erlesene Stücke exotischen Wildes. Fotokopierte grüne Blätter erklären Rezepte wie „Kaninchen in Senfsoße“. Und ein Aushang an der Wand warnt: „Das Wild kann Bleikugeln enthalten! Vorsicht beim Essen.“

„An den letzten zwei Wochenenden haben wir viel mehr verkauft als sonst“, erklärt die Verkäuferin Louise Gillibrand, nachdem sie gerade einer Kundin ein paar Wildschweinwürste eingepackt hat. Der Laden, Abnehmer der Jagderfolge in den Wäldern Ostenglands, existiert erst seit acht Monaten, hat sich aber bereits fest im kulinarischen Leben der gehobenen Kreise der Stadt etabliert. Daß der neueste Kundenandrang auf exotisches Fleisch etwas mit der Angst vor der Rinderseuche BSE zu tun haben könnte – darauf ist Louise jedoch noch nicht gekommen. Auch die Idee, das Wild als Ökoprodukt und gesunde Alternative zur Massenware Rind anzubieten, ist ihr neu. „Wir verkaufen es nicht als biodynamisches Fleisch. Wir nennen es Happy Meat – glückliches Fleisch.“

Davon wollen die Angestellten von „Arjuna Wholefoods“ nichts wissen. Im ältesten Alternativladen von Cambridge, Zentrum vegetarischer und radikalökologischer Aktivitäten, ist trotz der Rinderwahnkrise von Aufbruchstimmung wenig zu spüren. Nach den geschäftlichen Auswirkungen von BSE gefragt, fällt Büroleiter James erst mal ganz lange nichts ein. „Na ja“, sagt er dann. „Es kommen schon Leute, die nach vegetarischer Gelatine fragen. Und nach Käse, der nicht aus Milch hergestellt ist. Und nach Biofleisch – aber so was haben wir nicht.“

Die eingefleischten Vegetarier von „Arjuna“ florieren sowieso. Vor zehn Jahren noch ein einfacher Körnerladen, gibt es heute ein breites Angebot von tierproduktfreier Kosmetik über den alternativen Imbiß bis hin zu Gruppenreisen zu den besetzten Bäumen in Newbury.

In Cambridge, einer der reichsten Städte Englands, hat sich der Lebensmittelmarkt geteilt. „Arjuna“ und „Lay & Robson“ bedienen eine Nischenkultur. Einen Biofleischer gibt es nicht. Wer „Roastbeef“ will, muß schon zu Läden wie Waller's an der Victoria- Brücke gehen. In dem preisgekrönten Geschäft hängt hinter dem Tresen eine Liste der Bauern, von denen das angebotene Rindfleisch kommt – allesamt aus der Gegend. Ansonsten herrscht der Geldbeutel.

Als die Lebensmittelkette „Sainsbury's“ über das vergangene Wochenende ihr gesamtes Rindfleisch zum halben Preis losschlug, kauften die Bürger von Cambridge die Regale binnen kürzester Zeit leer. Daß dennoch immer weniger Beef in den Läden zu finden ist, hat weniger mit mangelnder Nachfrage zu tun als mit mangelndem Angebot. Auf den Viehmärkten der Region ist zur Zeit weit und breit kein Rindvieh aufzutreiben. Im Markt von King's Lynn, einer alten Kleinstadt 80 Kilometer nördlich von Cambridge, wo die Gezeiten der Nordsee am weitesten landeinwärts reichen, ist die Abteilung „Kälber“ an diesem Dienstag fest verschlossen. „Es bringt einfach niemand seine Ochsen und Stiere herein“, sagt Auktionar Barry Hawkins.

Die Gegend um Cambridge war früher ein wichtiges Viehzuchtgebiet. Hier begannen mitten im Zweiten Weltkrieg die ersten britischen Experimente mit künstlicher Befruchtung, die die Rinderzucht revolutionierten und neue Rassen nach England brachten. Aber mit dem Siegeszug der intensiven Landwirtschaft veränderte sich das Bild. Für Viehzucht ist die reiche, schwarze Erde der Region einfach zu wertvoll.

Die in jahrhundertelanger Mühe trockengelegte Tiefebene, die sich von Cambridge nordwärts bis nach King's Lynn erstreckt, hat den ertragreichsten Ackerboden Großbritanniens, und Cambridge selbst ist ein Zentrum agrarischer und gentechnologischer Forschung. Phänomenale Mengen Getreide wachsen auf den Feldern, die sich bis an den platten Horizont erstrecken, geteilt durch stille Sumpfgräben mit urwüchsigen alten Bäumen. Wildgänse, Füchse und Fasanen zeigen sich in der Morgensonne – aber kein Rindvieh weit und breit.

Früher, als die Sümpfe noch sumpfig waren und die Kleinstadt einer der wichtigsten Nordseehäfen Englands, lag der Viehmarkt von Kings Lynn mitten in der Stadt. Heute ist das Meer zurückgewichen, die Stadt liegt trotz ihres Flußhafens im Binnenland, und am Platz des alten Viehmarktes steht ein Parkhaus. Der neue Viehmarkt ist in einem gigantischen Gewerbepark südlich der Stadtgrenzen versteckt. In dem Gebäudekomplex verlieren sich etwa zwanzig Bauern und Händler. An der Wand hängt, wie zum Hohn, eine orangene Warntafel: „Achtung – importierte Seuchen könnten Ihr Vieh gefährden“.

Es ist Frühlingsanfang, und so werden diesmal vor allem Osterlämmer versteigert. Drei preisgekrönte Gruppen von reinrassigen „Suffolks“ erregen einiges Aufsehen, und die Gewinner des ersten Preises erzielen schließlich 77 Pfund pro Stück. „Die Preise steigen“, freut sich Frau Beddie, die mit ihrem Mann, einem Gemüsefarmer, als Leiter des „Suffolk“- Auswahlkomitees die Lämmer hergebracht hat. Aber alle sind sich einig: „Wenig Geschäft.“ Landesweit bringen Schafe und Schweine 30 Prozent mehr ein als vor einem Jahr, während die Rinderpreise schon vor der neuesten Krise stagnierten und jetzt völlig abgestürzt sind. Gerade sechs Rinder wurden in der Vorwoche verkauft, diesmal sind gar keine da.

Die Stammkunden von King's Lynn sind ein eingeübtes Team. Da ist Jack Bush, ein stiller grauhaariger Hüne im langen Mantel, der nie ein Wort sagt und sein Interesse höchstens mit Augenbewegungen signalisiert. Da ist Bill Geoffrey mit Anorak und schwarzen Haaren, der mit seinen buschigen Augenbrauen ewig besorgt dreinblickt und immer wieder die Tiere betatscht, um die Festigkeit des Fleisches zu prüfen. Der rundliche „J. F.“, anders als seine beiden Kollegen ohne Krawatte angetreten, reißt Witze: „Guckt mal, die hat BSE“, lacht er angesichts eines alten Schafes, das in der Ecke seines Verschlages zittert. Ansonsten ist die Rinderseuche während der Auktion kein Thema.

Nach Ende der Auktion, die nur eine gute Stunde dauert, läßt sich Auktionar Hawkins gegen die Regierung aus. „Niemand weiß, was mit den Rindern wird. Am Freitag gab es die neue Bestimmung, daß Rinder mit mehr als zwei Vorderzähnen – das heißt, etwa 24 bis 32 Monate alt – nicht mehr zu Lebensmitteln verarbeitet werden dürfen. Gestern wurden schon mehrere Rinder notgeschlachtet. Aber es gibt Hunderte davon da draußen. Niemand weiß, was mit ihnen geschehen soll. Wir brauchen klare Richtlinien – nicht nächste Woche, sondern morgen. Sonst gibt es Krach.“

Die Massenschlachtung älterer Tiere, die die britische Bauerngewerkschaft „National Farmers' Union“ schon lange vor der Regierung vorschlug, wird vom Staat als Maßnahme zur Ausrottung von BSE und zur Wiederherstellung des öffentlichen Vertrauens präsentiert. In Wirklichkeit, das wird hier klar, geht es um die Wiederherstellung der gewohnten Preise. Wenn alle älteren Rinder aus der Fleischproduktion entfernt werden, schrumpft die britische Herde um ein Drittel. Eine Angebotsverringerung war schon immer die beste Methode für Bauern, ihr Einkommen zu sichern.

Außerdem drängt die Zeit. Am 6. April endet das Finanzjahr der Bauern, die Pacht wird fällig – das meiste Land hier gehört Großgrundbesitzern, darunter mehrere Colleges der Universität Cambridge. Normalerweise werden die älteren Rinder rechtzeitig davor ausgesondert und zu Pasteten und Würsten verarbeitet. Dieses Jahr kam der Rinderwahn dazwischen, so daß viele Bauern ihr Vieh im Stall herumstehen haben und füttern müssen. Und da der Winter härter und länger war als sonst, sind Futtermittel teuer geworden. Obwohl Rinder nur einen geringen Anteil des Einkommens der hiesigen Bauern ausmachen, binden sie auf diese Weise viel Geld. Die EU- subventionierte Notschlachtung soll einen Teil davon wieder hereinholen.

Aber nicht alle sind damit zufrieden. „Ich habe eine Kuh, die ist Nummer eins im ganzen Land“, sagt ein Bauer aus Bottisham in der Nähe von Cambridge, der seinen Namen nicht nennen will. „Sie ist wie ein Freund der Familie.“ Sie unter den neuen Bestimmungen zu schlachten, wäre für ihn ein schwerer Schlag. Seine 25köpfige Herde, sagt der Bauer, mache nur fünf Prozent seines Einkommens aus – aber sie hat schon mehrere nationale Auszeichnungen gewonnen. „Ich habe alles Geld, was ich damit verdient habe, wieder reingesteckt, und meinen Lebenstraum verwirklicht“, sagt er. Nun bricht mit dem Rinderwahnsinn alles zusammen.

Auf eine großflächige Weide schicken und ökologisch aufziehen können Bauern wie er die Viecher nicht, weil sie dafür das kostbare Ackerland umwidmen müßten. Also so weitermachen wie bisher? Die Sicherheit ist vorbei. „Ich habe einen BSE-Fall gehabt – den habe ich gekauft. Es war ein reinrassiger Embryo, eingepflanzt in eine Hereford-friesische Kreuzung. Am Wochenende haben mich drei Leute angerufen und gefragt: ,Sind Sie BSE-frei?‘ Und ich muß sagen: ,Nein.‘ Dann frage ich: ,Und Sie?‘ Und sie sagen: ,Ja.‘ Aber wie können sie das sagen? Es gibt keine frühzeitige Erkennung der Infektion. Ich denke, BSE ist ein bißchen wie Aids. Man redet halt nicht gern darüber.“

Barry Hawkins, der Auktionar von King's Lynn, gibt sich robust und selbstbewußt. „Mit britischem Rindfleisch gibt es kein Problem, überhaupt kein Problem. Es ist das beste Rindfleisch der Welt.“ Dann redet er doch darüber. „Mit allem Respekt“, fährt er fort und schaut seinem Gesprächspartner in die Augen, „ihr da drüben habt doch genausoviel BSE wie wir. Ihr sagt es bloß nicht. Stimmt doch, oder?“ Und zum ersten Mal verrät sein Blick einen Sprung im Selbstbewußtsein. Noch nie waren Englands Bauern auf fremde Bestätigung angewiesen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen