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„Freibrief für Gewalttaten“

■ Scheinhinrichtungen durch Polizeibeamte: Menschenrechts-Komitee sieht keine Chance mehr, den Fall Boateng aufzuklären Von Marco Carini

Johannes Santen hat fast aufgegeben: „Es wird nie zu einer Anklage und schon gar nicht zu einer Verurteilung kommen“, befürchtet der Anwalt, der Joel Boateng – das einzige bislang bekannte mutmaßliche Opfer einer polizeilichen Scheinhinrichtung – vertritt. Der Grund: Statt den Täterkreis einzugrenzen, würden Staatsanwaltschaft und Polizei mit immer neuen Tricks versuchen, die Glaubwürdigkeit Boatengs zu erschüttern, ihn „zu demontieren“ und „fertigzumachen“.

„Wir können keinem Scheinhinrichtungsopfer raten, sich an die Staatsanwaltschaft zu wenden“, ergänzt Michael Herrmann vom „Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte“. Er sieht „keine Chance mehr, diesen Fall aufzuklären. Die Ermittlungspraxis stellt einen Freibrief für polizeiliche Mißhandlungen dar“.

Geschickt sei der drogenabhängige Klein-Dealer zum „Straftäter“ aufgebauscht worden, um seine „Glaubwürdigkeit nachhaltig zu demontieren“. Vorläufiger Höhepunkt der Demontage: Am 5. März soll Boateng, so Polizeipressesprecher Werner Jantosch, „ganz eindeutig beim Dealen erwischt worden“ sein, als er vor den Augen von zwei Zivilfahndern dem türkischen Drogenabhängigen Kemal Y. fünf Gramm Heroin verkaufte. Die Meldung wurde vermutlich aus Polizeikreisen umgehend an die Springer-Presse lanciert.

Kemal Y. aber hat sich inzwischen bereit erklärt, eidesstattlich zu versichern, daß er – unter Entzugserscheinungen leidend – nach seiner Festnahme auf der Wache dazu gedrängt wurde, einen ihm nicht verständlichen Text zu unterschreiben, in dem auch der Name Boatengs aufgetaucht sei. Er habe aber bereits bei seiner polizeilichen Vernehmung vorher ausgesagt, den gestreckten Stoff nicht von Boateng, sondern von einem ihm bekannten Kurden gekauft zu haben.

Zudem kritisieren Santen, Herrmann und Friedenskirchen-Pastor Christian Arndt, daß es vier Monate, nachdem die Vorwürfe Boatengs bekannt wurden, noch immer zu keiner Gegenüberstellung gekommen sei. Da das Datum der behaupteten Scheinhinrichtung – der 29. März 1995 – bekannt sei und Boateng seinen Mißhandler am 9. Oktober in der Wache Kirchenallee wiedererkannt habe, sei – so Arndt – der „Kreis der als Täter infragekommenden Polizisten stark eingegrenzt“.

Auch habe Boateng eine halbwegs präzise Beschreibung des mutmaßlichen Täters geliefert. Santen: „Da muß keine Hundertschaft Polizisten zur Gegenüberstellung geladen werden.“ In der Zwischenzeit aber hätte ein möglicher Täter „genügend Zeit gehabt, sich ein Alibi zu besorgen“.

Vorwurf Nummer drei: Die Staatsanwaltschaft sei nicht bereit, Ermittlungsergebnisse des Komitees, das Boateng im Dezember ausfindig machte, „abzufragen“. So hatte Johannes Santen bereits im Januar der Staatsanwaltschaft schriftlich mitgeteilt, daß er neue Erkenntnisse über die näheren Umstände der behaupteten Scheinhinrichtung habe. Der Brief des Anwalts aber blieb unbeantwortet. Santen: „Sowas erlebt man in anderen Verfahren nicht.“

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