Polen und Rußland streiten weiter über die Nato

■ Bei dem Besuch des polnischen Präsidenten in Moskau stehen wirtschaftliche Interessen im Vordergrund. Aber an der Geschichte scheiden sich die Geister

Moskau (taz) – Anders als Helmut Kohl kann man den polnischen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski wohl kaum des Wunsches verdächtigen, Boris Jelzin Schützenhilfe im Wahlkampf leisten zu wollen. Und wenn Kwaśniewski noch am Wochenende vor seiner Abreise nach Moskau erklärt hatte, der geplante Eintritt Polens in die Nato sei nicht nur für Rußland ungefährlich, sondern werde das westliche Bündnis noch friedliebender gegenüber seinen Nachbarn machen – die Reaktion auf solche Versicherungen im Kreml war vorauszusehen. „Im Hinblick auf die Osterweiterung der Nato ist jeder von uns bei seiner Meinung geblieben“, verkündete der russische Präsident gestern. Aber verbindlich merkte er an, die gegenseitigen Beziehungen hätten sich zuletzt, unter Walesa, nicht recht „gefügt“, jetzt werde es hoffentlich vorangehen.

Triebfeder für den Besuch bilden ganz banale wirtschaftliche Interessen. Da harrt zwischen den beiden Ländern noch ein Schuldenausgleich aus der Comecon-Zeit. Da möchten sich viele Betriebe der polnischen Schwerindustrie ein Hintertürchen zu Rußland aufhalten, weil sie nach Polens Anschluß an die Europäische Gemeinschaft eine Absatzkrise für ihre plumpen Produkte befürchten.

Das wichtigste Kapitel in beider Wirtschaftsbeziehungen dürfte zwischen Aleksander Kwaśniewski und dem russischen Ministerpräsidenten, Viktor Tschernomyrdin, zur Sprache gekommen sein. Da der Transit russischer Pipelines durch Polen nach Westeuropa geplant ist, möchte Warschau von Rußland auch langfristig Erdöl- und Erdgas-Lieferungen garantiert bekommen. Ganz nebenbei beschloß man ein Verkehrsabkommen und ein Jugendaustauschprogramm.

Während eine Abwicklung der ökonomischen Erbmasse des Ostblocks zwischen den beiden Ländern Erfolg verspricht, dürfte ihre gemeinsame Bewältigung der Vergangenheit dort aufhören, wo die Geschichtsdeutung beginnt. In Moskau wollte Kwaśniewski gestern auch den KP-Chef Gennadij Sjuganow treffen, der sich zur Übernahme der Macht anschickt. Sein Weg nach Moskau aber hatte den polnischen Präsidenten zuerst ins weißrussische Katyn geführt, wo während des Zweiten Weltkriegs Tausende polnischer Offiziere von den Sowjets massakriert worden waren. Kwaśniewski forderte Wiedergutmachung für die polnischen Opfer des stalinistischen Terrors. Sjuganow ist der letzte, bei dem solche Töne auf ein offenes Ohr stoßen. Er hat nämlich soeben die Geschichte umgeschrieben und behauptet, es habe diesen Terror überhaupt nicht gegeben. Barbara Kerneck