In Ostasien hat Atomenergie Zukunft

■ Die boomende Industrie verlangt nach neuen Kraftwerken, doch auch AKW-Gegner sind seit Tschernobyl stärker

Vorreiter für die Atomkraft in Asien ist Japan. Das rohstoffarme und erdbebengefährdete Land hat das ehrgeizigste Kernenergieprogramm der Welt mit 50 Kernkraftwerken. Fünf weitere sind im Bau. „Rund drei Viertel aller weltweiten Aufträge für neue Kernkraftwerke werden zukünftig aus Asien kommen“, schätzt Wolfgang Breyer vom deutschen Reaktorbauer Siemens-KWU. Von den weltweit 434 Kernreaktoren im Betrieb sind 80 in Asien, von den 62 im Bau 24. Bis zum Jahr 2010 sind dort weitere 50 geplant. Atomkraftwerke sollen prognostizierte Energielücken schließen und das Wachstum aufrechterhalten. Sie sind Statussymbole technologischer Entwicklung und versprechen energiepolitische Unabhängigkeit. Auch militärische Optionen sind nicht auszuschließen.

Doch auch in Fernost hat sich Tschernobyl politisch ausgewirkt. Wenige Tage nach dem GAU beschloß die Regierung der gerade ins Amt gekommenen philippinischen Präsidentin Corazon Aquino, den einzigen, fast fertiggestellten Reaktor des Landes nicht ans Netz gehen zu lassen. In Vietnam wurden Studien für ein Atomprogramm abgebrochen. In Hongkong forderten im Sommer 1986 eine Million Menschen mit ihrer Unterschrift die Regierung in Peking auf, den Bau des Atomkraftwerks Daya Bay in der Nähe der Kronkolonie abzubrechen.

Die Bewegungen sind klein. Die Demokratisierung, die in den letzten Jahren auf den Philippinen, in Thailand und Südkorea erkämpft wurde, hat die Möglichkeiten jedoch vergrößert. Zugleich ist der Spielraum der Regierungen geschrumpft, die riskante Großtechnologie autoritär durchzusetzen.

Ein Ausdruck der gewachsenen Stärke asiatischer Anti-AKW-Bewegungen ist das seit drei Jahren jährlich stattfindende „No-Nuke- Asia Forum“. Die Konferenz ist für die Vernetzung und gegenseitige Unterstützung der Bewegungen aus zehn asiatischen Ländern wichtig. Ein atomfreies Asien ist das Ziel. „Die Atomindustrie versucht zu überleben, indem sie Kernkraftwerke nach Asien exportiert. Wir sind gegen die Atompläne asiatischer Regierungen und fordern sie auf, diese aufzugeben“, heißt es zum Abschluß des dritten No-Nuke-Asia Forums im September 1995 in Taipeh.

In Taiwan ist der Protest am stärksten

In keinem asiatischen Kernenergieland ist die Anti-Atom-Bewegung derzeit so stark wie in Taiwan. In dem rohstoffarmen Land sorgen drei Doppelreaktoren für 28,8 Prozent der Elektrizität. Am 23. März stimmten 51,5 Prozent der Bewohner Taipehs gegen den Bau des vierten Doppelreaktors Lungmen bei Kungliao nordöstlich von Taipeh. 44 Prozent stimmten dafür. Zwar hatte das Referendum keinen Verfassungscharakter, doch es erschwert der Regierung, sich über die öffentliche Meinung hinwegzusetzen.

Die Atomindustrie Südkoreas hat ein drängendes Entsorgungsproblem. Die Lager für hochradioaktiven Abfall sollen nur noch bis 1997 reichen. Südkorea hat zehn Atomkraftwerke, sechs sind im Bau, bis zum Jahr 2010 sind neun weitere geplant. Mit den Protesten der Arbeiter- und Studentenbewegung wuchs 1987 auch die Anti- Atom-Bewegung. 1989 gab es Widerstand gegen die Reaktoren Youngkwang 3 und 4 an der Westküste. In drei Monaten wurden 160.000 Unterschriften gesammelt.

„Ein wichtiger Wendepunkt war 1990“, sagt Yu Mi Mun von der Korean Federation for Environmental Movements, „als die Bewohner von Anmyndo gegen das an ihrem Ort geplante Endlager kämpften.“ Die Regierung hatte sich heimlich für den Ort entschieden. 10.000 Menschen demonstrierten und riefen die „Unabhängige Republik Anmyndo“ aus. Nach zehn Tagen heftiger Auseinandersetzungen gab die Regierung nach. Ein Minister mußte zurücktreten. „Danach war es unmöglich, einen neuen Ort für das Atommüllager zu finden“, so Mun.

Die Volksrepublik China, die 1964 erstmals Atomwaffen testete, begann 1978 ihr ziviles Atomprogramm. In dem öl- und kohlereichen Land wird die Kernenergie mit der Entfernung der Energiequellen von den Verbrauchsorten und der schlechten Transportinfrastruktur begründet. Neben einem Dutzend Forschungsreaktoren betreibt China heute drei AKWs – eines in Quinshan bei Schanghai und zwei französische an der Daya Bay, die 70 Prozent ihres Stroms ins nahe Hongkong liefern.

Im Januar vereinbarten französische Firmen mit Peking einen 2,8-Milliarden-Dollar-Auftrag für zwei weitere Reaktoren bei Daya Bay. Auch zwei neue in Quinshan sind beschlossen, Kanadier und Russen verhandeln über drei weitere. Beim großen Energiebedarf Chinas wird die Atomkraft trotzdem keinen großen Anteil an der Stromversorgung erreichen.

Die thailändische Regierung hat ihre Atompläne 1994 für zehn Jahre ausgesetzt, ebenso wie Malaysia. Im Gegensatz dazu will Vietnam nun doch zwischen 2010 und 2015 einen Reaktor fertigstellen. Vietnam hat eigene Uranvorkommen und betreibt im südlichen Dalat einen Forschungsreaktor. Im April 1995 erklärte KP-Generalsekretär Do Muoi, das Land brauche Atomenergie für die „nationale Industrialisierung“. Auch die philippinische Regierung unter Präsident Fidel Ramos hat inzwischen neue Kernenergiepläne, die bisher nicht veröffentlicht wurden. Im März 1994 verkündeten asiatische Regierungsvertreter in Tokio, daß sie für das Jahr 2020 von einem 50 Prozent Atomenergieanteil ausgehen. Sven Hansen