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Das Raumschiff als Zukunft

Aus der Altstadt auf den Acker: Leipzigs Neue Messe vor den Toren der Stadt setzt auf die Verheißung einer pompös modernistischen Architektur und verzichtet auf ihren wichtigsten Standortvorteil – Leipziger Urbanität  ■ Von Wolfgang Kil

Was geschieht, wenn ein strauchelndes Unternehmen sein Schicksal in die „treuen Hände“ von Beratern legt, die dem Management der Konkurrenz angehören? Die Stahlwerker von Oranienburg, die Kalikumpel von Bischofferode, die Filmchemiker von Wolfen oder die ostdeutschen Schiffbauer haben für diese Lektion in Sachen Marktwirtschaft einen hohen Preis gezahlt.

Wenn nicht ein mittelgroßes Wunder geschieht, könnten demnächst auch die Bürger der Stadt Leipzig zu den Geprellten gehören. In einem spektakulären Kraftakt wurde ihnen eine „Neue Messe“ vor die Tore der Stadt gebaut. Volkwin Marg vom Hamburger Architekturbüro GMP entwarf die weiträumige Anlage: fünf quadratische Hallen mit rund 100.000 Quadratmetern Nutzfläche, ein Tagungs- und ein Verwaltungszentrum sowie – als wichtigste Publikumsattraktion – eine gewölbte Glashalle von wahrhaft überwältigenden Ausmaßen: 250 Meter lang, 80 Meter breit und 35 Meter hoch. Das Ganze wurde in eine künstlich modellierte Landschaft mit Tausenden von Großbäumen und symmetrischen Wasserbecken gesetzt. Ein eigener Bahnhof, ein kleines Autobahnkreuz, ein interner Busshuttle sowie 7.000 Parkplätze gehören dazu. Eine gigantische Maschine, der zugleich eine „metaphysische architektonische Verheißung“ (Marg) eingeschrieben ist: die Apotheose grenzenloser Machbarkeit. Das Raumschiff als Zukunft.

Die Anlage ist eine Risikoinvestition, bei der selbst die Hauptverantwortlichen weiche Knie kriegen: „Es gibt viel Gegenwind“, orakelt der Leipziger Oberbürgermeister Lehmann-Grube. „In fünf Jahren beurteilen wir vielleicht schon alles anders“, räumt Baudirektor Rahmen ein. „Nur weil wir ein neues Messegelände haben, wird es nicht automatisch aufwärts gehen“, hält sich Cornelia Wohlfarth den Rückzug offen; sie steht an der Spitze der Messegesellschaft.

Daß der alte Mockauer Flugplatzacker nun den „Kristallpalast von Sachsen“ (Deutsche Bauzeitung) tragen darf, hat eine Vorgeschichte. Nach Öffnung der Mauer waren die Frühjahrs- und Herbstmesse 1990 für Leipzig ein Desaster gewesen. Weil über Nacht das Sonderprivileg des Ost–West- Handelsplatzes entfiel, sah sich die „Mutter aller Messen“ abrupt in die Konkurrenz aller übrigen (west)deutschen Messeplätze gestellt, und zwar in ziemlich aussichtsloser Position. So schlug die Stunde der Berater. Erfahrene Messeprofis aus Hannover, Frankfurt, Düsseldorf und Köln kamen – weshalb eigentlich? – im April 1991 zu einer Krisenklausur und empfahlen den Leipzigern die Flucht nach vorn: Aufsplittung der Universalmesse in viele kleine Branchenveranstaltungen und natürlich logistische Aufrüstung, am besten gleich den Sprung an die vorderste technologische Front. Schneller, größer.

So rationalisieren wackere Unternehmer ihren Betrieb. Die Stadt Leipzig als Schauplatz kam allerdings in der Planung gar nicht vor. Dabei sind die kurzweiligen Wege, die Hotels, Kneipen, Kabaretts, die Mode, der Rummel in unmittelbarer urbaner Umgebung der Messe das eigentliche Kapital des Standorts Leipzig, mit dem gegenüber der Konkurrenz in Frankfurt, Köln oder Hannover zu wuchern wäre. Und was würden andernorts Imagewerber allein für ein „Gründungsjahr 1165“ zahlen ...

Umsonst mahnten Kritiker, man solle das Leipziger Lokalkolorit mit ins Kalkül ziehen. Die aus Frankfurt zugezogene Messedirektorin hingegen hat ganz andere Probleme: „Vorstellungen von einer autofreien Innenstadt behindern das innerstädtische Messegeschehen. Die Aussteller wollen mit dem Auto direkt zu den Hallen fahren, das ist leider so.“ Findet solche Logik dann auf dem Stadtplan noch ein freies Fleckchen in Flughafennähe und mit Autobahnanschluß, ist das Votum der Experten fast schon gefällt (und 700 Millionen Mark für Erschließung und Infrastruktur tauchen als kommunale Vorleistung im Messeetat gar nicht auf).

Auf der Strecke blieb nach dem Neubaubeschluß die Struktur einer außerordentlich flexiblen, weil dezentralen Traditionsmesse: 18 Handelshäuser und Ausstellungspaläste, die große Teile der Innenstadt mit einem Netz wundervoller Passagen durchziehen, sowie die „Alte Messe“, ein zentrumsnahes Freigelände mit Hallen unterschiedlichster Größe. Alles insgesamt renovierungsbedürftig, aber bei der Gelegenheit garantiert auf aktuelle Standards aufzurüsten – die Kosten dafür waren mit 780 Millionen Mark niedriger als für den Neubau veranschlagt. Die Messehäuser, darunter wertvollste Baudenkmale, und das Freigelände sollten jedoch verkauft werden, um den Bau der Neuen Messe zu bezahlen. Aus Bonn gab es 300 Millionen Mark „Anschubfinanzierung“. Den Rest von einer reichlichen Milliarde hatte die Messegesellschaft selbst aufzubringen.

Die Handelshäuser im Zentrum fanden schnell Käufer. Luxusprojekte wie die umgebaute Mädlerpassage (berühmt geworden durch den Schneider-Skandal) oder Specks Hof (soeben europaweit zur „Immobilie des Jahres“ gekürt) brauchten nicht lange auf neue Besitzer zu warten.

Die Vermarktung der Alten Messe hingegen ist schiefgegangen. Ein neues Stadtviertel sollte dort entstehen, mit Büros, Läden, Sportanlagen und Wohnungen. Euphorisch wurden eine Milliarde Mark Einnahmen „hochgerechnet“, manche träumten schon von einem Schwabing an der Pleiße. Allerdings würde das alte Gelände erst nach Fertigstellung der Neuen Messe frei – vielleicht zu spät, wie der damalige Baudezernent Niels Gormsen bereits 1992 das Hazardspiel eingestand: „Großinvestoren haben bis dahin möglicherweise schon einen Platz gefunden, und die Stadt bleibt auf ihren angepriesenen Kostbarkeiten sitzen.“ Genauso ist es gekommen. In Leipzigs Innenstadt stehen heute an die 400.000 Quadratmeter Büroflächen leer, ein Ende dieser per Sonderabschreibung geförderten Überproduktion ist nicht in Sicht. Vor knapp einem Jahr verkaufte deshalb die Messegesellschaft die Alte Messe zum Buchwert an die Stadt zurück. Nun muß Leipzig, als Fünfzigprozentgesellschafter, für die Finanzlücke durch Nichtverkauf der Neuen Messe in Höhe von 750 Millionen geradestehen, und obendrein hat sie das schwerverkäufliche Freigelände am Hals.

Mit den innerstädtischen Häusern ist nicht nur das Tafelsilber unwiederbringlich dahin. Auch die Messe ist aus der Stadt verschwunden, und mit ihr der Inbegriff Leipziger Bürgerstolzes. Über diesen Verlust werden keine Rentabilitätsrechnungen hinwegtrösten, und erst recht keine Brezelbuden am Markt, während draußen zwischen Airport und Autobahn die Geschäftsleute ihre Kreise ziehen. Nur einen multikommerziellen Erlebnispark mit Gewächshaus haben die Exmessestädter hinzugewonnen, wo während Messeflauten die Fischer-Chöre oder Bon Jovi auftreten können.

War das „Traditionsmodell“ wirklich so ausweglos veraltet? Schwer vorzustellen, daß Messethemen wie Mode, Schuhe, Software, Elektrotechnik, Modelleisenbahnen, Umweltschutz oder Denkmalpflege in den riesigen High-Tech-Hallen besser aufgehoben sein sollen. Und bezeichnenderweise ist es die Buchmesse, die ihren überraschenden Erfolg in diesem Jahr dem urbanen Ambiente der Altstadt verdankt: Um sich gegenüber der Frankfurter Großkonkurrenz noch deutlicher abzuheben, setzt Leipzig vor allem auf Lesungen und Gespräche, präsentiert Literatur weniger als Geschäft, denn als Kultur.

Auf ihrer Krisenklausur hatten die „Experten“ aus dem alten Logo der Mustermesse ein neues Motto gedrechselt: die Menschliche Messe. Wenn sie es denn ernst gemeint hätten: Leipzigs „MM“ – flexibel, ressourcenbewußt, erlebnisreich, kulturbetont, festlich, bescheiden... menschlich durch die unwiederholbare Urbanität der traditionsreichsten Messestadt der Welt. Dank der fürsorglichen Beratung durch die Profis von der Konkurrenz führt dahin kein Weg mehr zurück.

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