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Wie die Toten weggerechnet werden

■ Kongreß über die medizinischen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe

Berlin (taz) – Etwa 25.000 Menschen sind bis heute direkt oder indirekt an den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe gestorben. Diese Zahl nannte gestern der Münchner Strahlenbiologe Edmund Lengfelder zum Auftakt eines von ihm geleiteten internationalen Kongresses an der Berliner Humboldt-Universität.

Lengfelder wirft der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO vor, die dramatischen Konsequenzen seit Jahren systematisch kleinzurechnen. Letzte Woche hatte eine von der IAEO, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Europäischen Union (EU) veranstaltete Konferenz erneut von kaum mehr als 30 Strahlentoten berichtet und damit die frühen Zahlen der Sowjetnomenklatura bestätigt.

Die Ursache für diese Diskrepanz bei den Opferzahlen liegt darin, daß die IAEO, durch ihre Satzung zur Förderung der Atomenergie verpflichtet, ausschließlich die „klassischen“ Strahlenfolgen berücksichtigt. Danach starben knapp 30 Menschen unmittelbar nach der Explosion an akuter Strahlenkrankheit und in den vergangenen Jahren drei der inzwischen etwa 800 an Schilddrüsenkrebs erkrankten Kinder. Blutkrebserkrankungen (Leukämie) häufen sich nach den Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki erst nach einer Latenzzeit von zehn Jahren, massive Krebstumore sogar erst 10 bis 30 Jahre nach der Bestrahlung. Sie sind bisher statistisch nicht nachweisbar.

Unter den etwa 600.000 bis 800.000 hochbelasteten Katastrophenhelfern („Liquidatoren“) starben viele aber nicht an Krebs, sondern an Krankheiten, die anderswo nicht tödlich verlaufen – vermutlich die Folge einer von den Strahlen ausgelösten chronischen Schwächung des Immunsystems („Tschernobyl-Aids“). Anatolij Tschuprikow aus dem ukrainischen Gesundheitsministerium berichtete in Berlin darüber hinaus von einer 40prozentigen Steigerung der Selbstmordrate. Unter den Liquidatoren liege die Zahl der Suizide noch einmal um einen Faktor zwei bis drei über dem Durchschnitt der Ukraine.

Der stellvertretende ukrainische Tschernobyl-Minister Wolodimir Pintschuk wandte sich gegen alle Versuche, „das Problem mit Todeszahlen zu erfassen“. Die Katastrophe bedeute „einen Wendepunkt im Leben von Millionen Menschen“ und die soziale und psychologische Zerrüttung ganzer Regionen. Trotzdem sprach sich Pintschuk für die weitere Nutzung der Atomenergie in der Ukraine aus. Gerd Rosenkranz

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