In Notwehr

■ betr.: „Mit Singer muß man diskutieren“, taz vom 15. 4. 96

[...] Es kann nicht sein, daß durch den Glauben an ein leidlose Gesellschaft das Lebensrecht von Menschen mit körperlichen und oder intellektuellen Einschränkungen wieder diskutierbar wird. Ich wehre mich dagegen, daß es zu einem Bruch sämticher Tabus kommt, nur um einer fragwürdigen Meinungs- und Diskussionsfreiheit wegen. Das Recht auf Leben von Menschen ist nicht diskutierbar.

Auch Wissenschaftler wie Simon und Fischer würden in einer Diskussion mit ihrem Wunschpartner Singer nicht mehr sagen können als, rational gedacht sind seine Gedanken unwiderlegbar, das Lebensrecht von Menschen ist aber kein rationales Gut. Das aber wiederum liegt außerhalb der Denkmöglichkeiten von Peter Singer. [...] Simon und Fischer sehen die von Singer vertretenen Fragen als „jetzt anstehend“ und diskussionsreif. Auch sie nehmen die Interessen von Betroffenen nicht ernst, lassen lieber ihre Veranstaltung platzen, als sich mit in Notwehr handelnden Menschen mit Behinderungen auseinanderzusetzen. [...] Günter Frank,

Mitarbeiter in einer Wohn-

einrichtung für Menschen mit

Behinderungen, Sympathisant

von Betroffenen

[...] Das Gefährliche an Singers Denkansatz ist eben, daß er sich tatsächlich, wie Fischer auch sagt, ganz im Mainstream moderner Ethik bewegt. Singers Thesen wirken auf mich deshalb so bedrohlich, weil sie sich auf dem gleichen Boden bewegen, von dem aus zur Zeit über die Kosten des Sozialsystems diskutiert wird. Es ist wieder en vogue, nachzurechnen, ob sich bestimmte Leistungen für die Gesellschaft überhaupt lohnen, wie die derzeitigen sozialpolitischen Debatten zeigen. Und Singer schlägt genau in diese Kerbe. [...]

Natürlich muß über Leben, Leiden und Tod diskutiert werden können, auch und gerade in Krankenhäusern. Aber es gibt noch andere Fragestellungen als diejenige, ab wann das Leben nicht mehr lebenswert oder für die Gesellschaft nicht mehr tragbar ist. Wie wäre es, einmal darüber nachzudenken, wie die Medizin es erreichen könnte, ihren PatientInnen Fähigkeiten zu vermitteln, mit ihren Einschränkungen ein erfülltes Leben zu führen, dessen oberstes Ziel nicht der verzweifelte Versuch einer möglichst weitgehenden Normerfüllung ist? Wie sieht es aus mit der Verpflichtung der Medizin, sich auf die Seite der Kranken und Behinderten zu stellen und aus dieser Position heraus ihr Potential für die Gesellschaft zu definieren, anstatt ihnen und allen anderen zu vermitteln, daß sie ja eigentlich sowieso nur ein Kostenfaktor sind? [...] Erst wenn wir unsere Begriffe von Leid und Glück in Frage stellen, sind wir in der Lage über Leben und Tod zu diskutieren, ohne daß es für Behinderte bedrohlich wird. Ein Peter Singer kann dazu keinen Beitrag leisten. Jochen Goens, Bremen

[...] Den Widerstand gegen diesen Kongreß einzig und allein auf die zeitweilige Einladung Peter Singers zu reduzieren und allgemein als Fundamentalismus zu deklarieren, ist eine Ignoranz der eigentlichen Kritik. Ausgerechnet den von diesem Kongreß betroffenen Menschen illegitimen Herrschaftsanspruch zu unterstellen, ist pervers. Die aktiv widerstehenden Menschen gefährden in keinerlei Hinsicht das Lebensrecht der Kongreßveranstalter oder Herrn Singers. Es ist eher umgekehrt.

Die Kritik der Widerständler bezieht sich auf die Einseitigkeit des Programms, in dem Singer nur ein I-Tüpfelchen wäre. Die wissenschaftliche Einseitigkeit besteht in einem holistischen Funktionalismus. Die Gesellschaft wird zum Subjekt und die Menschen haben die Funktion einer gesellschaftlichen Gesundheit zu dienen. Dadurch wird behinderten Menschen der Wert ihres Lebens abgesprochen.

Begründet wird dies bei Singer mit scheinrationalen Kausalitäten, die zumindest bei den Kongreßveranstaltern als rationale akzeptiert werden. Für den Kongreß läßt sich voraussagen, daß das Leben von Menschen eher diskutiert wird als die pathologische Unfähigkeit einiger Sterbehelfer und ihrer Befürworter, mit dem Leid anderer Menschen umzugehen, weil sie ihre eigenen Gefühle beim Anblick leidender Menschen nicht ertragen.

Dies wäre in der Konsequenz der systemischen Erkenntnisse der folgerichtige Forschungsansatz und Diskussionspunkt, statt dessen wird diesem Forschungszweig, der in der Psychologie, Soziologie und in der sozialen Arbeit schon länger erforscht wird, Fundamentalismus aus Orientierungslosigkeit vorgeworfen. Diese blinde Unterstellung zu vertiefen ist unter anderem in der Einleitung des Programms des Kongresses vorgesehen. Die Stoßrichtung des Kongresses bläst ins gleiche Horn mit überkommenen Vorstellungen der Medizin des 19. Jahrhunderts und wird in einigen Jahrzehnten mit oder ohne Katastrophe aus Sicht der Wissenschaft als modischer Trend der achtziger und neunziger Jahre abgetan.

Die Übertragung naturwissenschaftlich wirksamer Theorien auf das wissenschaftlich mögliche Verständis mitmenschlichen Umgangs zu projizieren, ist der verfehlte Anspruch auf Wahrheit über den Menschen, die sich allein aus der Wirksamkeit ableitet. Wirksamkeit, die sich auf die Macht der Perspektive und der Definition gründet. Allein die Methode der monokausalen Logik ist wissenschaftlich überholt. Christoph Halbey, Mainz

Eine schwache Minderheit fühlt sich durch das Propagieren der Thesen Singers in ihrem Lebensrecht bedroht, der es für akzeptabel hält, über den Wert des Lebens anderer von außen zu bestimmen und es zu beenden, wenn die Beurteilung negativ ausfällt.

Diese Bedrohung wird nicht nur darin empfunden, daß man selbst zum Opfer werden könnte, sondern allein schon darin, daß man den Wert des Lebens objektiv abschätzbar macht. Wert und Unwert sind keine absoluten Begriffe. Es gibt auch die Abstufungen dazwischen. So muß auch die/der Behinderte sich in ihrem/seinem Lebenswert diskriminiert fühlen, der/ dem so eifrig zugesichert wird, daß ihre/seine Behinderung selbstverständlich keinen Anlaß zu Euthanasie darstelle.

Diese angeblich mögliche abgestuft einschätzbare Mehr- oder Minderwertigkeit von menschlichem Leben ist meines Erachtens ein grober Angriff auf die Menschenwürde und erzeugt Demütigung und Angst bei einer Minderheitengruppe, die in unserer Gesellschaft schon jetzt mit Diskriminierung, Benachteiligung und Ignoranz fertig zu werden hat.

Entlarvend lächerlich und hilflos wirkt dagegen die Angst der Veranstalter (nicht -innen) vor der „Gewaltbereitschaft“ von Behinderten, die planten, mit ihren Rollstühlen eine Menschenkette um die Heidelberger Stadthalle zu bilden, um die Veranstaltung zu stören und möglichst zu verhindern. Gerd Jünger, Sandhausen/USA