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Die längste Geschichte der Welt

Zwerge, Zauberinnen, Schwertkämpfe und Liebesabenteuer: Die Geschichte vom letzten und Besten aller Ritter, der Riesenroman von Lancelot, wird jetzt erstmals in einer Übersetzung ins heutige Deutsch lesbar gemacht  ■ Von Holger Noltze

Wenn es richtig ernst wird mit der Liebe, werden die Liebesromane weggelegt: „An jenem Tage lasen wir nicht weiter“ – Gedankenstrich; was sich weiterhin ereignet zwischen der Francesca da Rimini und ihrem schönen Schwager Paolo, kann sich der Leser denken, denn wir befinden uns im zweiten Kreis der Hölle von Dantes „Göttlicher Komödie“, wo die illegal oder sonst irgend unmoralisch Liebenden schmoren, genauer: deren Schatten wie Kraniche durch die Unterweltsphären ziehen. Das Buch, das an diesem Tag zwei Leser verlor, war für den Dichter Dante Anfang des 14. Jahrhunderts noch lebendige Literatur: „Lancilotto“ („Lancelot“) war der verführerische Roman, der paradoxerweise zum Nichtweiterlesen verführte. An der Stelle nämlich, als der von Liebe ganz paralysierte Ritter Lancelot sich von der Gattin des König Artus, auf einer grünen Weise vor Carduel war's, den ersten verstohlenen Kuß geben läßt...

Alte Geschichten also; eine alte, die auf eine noch ältere anspielen und sogar damit rechnen konnte, verstanden zu werden. Die Zeiten sind vorbei. Oder doch ganz anders. Wenn die Ritter der Artusrunde durch die Popkultur des 20. Jahrhunderts reiten, hauen und stechen, dann ist auf den nebelverhangenen Breitleinwänden des Ritterkinos manchmal auch ein Randstreifen frei für Lancelot, den Artusritter, der sich in seine Königin Ginover verliebt und damit seinen König betrügt; Lancelot, der einmal der Beste aller Ritter war und der Held der wahrscheinlich längsten Geschichte der Welt.

Das schönste Kind

Rund zweieinhalbtausend Seiten davon sind in einer zum ersten Mal übersetzten und kommentierten Ausgabe les- und verstehbar gemacht worden, und das ist, auf zwei Bände verteilt, erstens nur die Hälfte des „eigentlichen“ Lancelot-Romans, keineswegs abgeschlossen, an den sich zwei weitere Teile anfügen: „Die Suche nach dem Gral“ und „Tod des König Artus“, und dem im französischen Original noch zwei Romane als Vorgeschichte vorangestellt wurden. Dieser Original-Lancelot entstand im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich und bediente sich bei bereits bekannten Stoffen: Geschichten von Artus und vom Gral und von diesem besonderen besten Ritter Lancelot waren schon früher erzählt worden, hier aber erstmals in Prosa und als Totalpanorama inklusive Untergang des Artusreiches.

Wahrscheinlich schon um 1250 wurde der eigentliche Lancelot ins Mittelhochdeutsche übersetzt – ob dazwischen noch eine niederländische Fassung liegt, darf uns egal sein. Dieser mittelhochdeutsche Lancelot jedenfalls ist der erste Prosaroman in deutscher Sprache, eine Übersetzung ohne größeren Ehrgeiz zum Verbessern oder Dazudichten, aber von einer unraffinierten Einfachheit, die einen gerade deshalb treffen kann:

„In der marcken von Galla und von der Mynnren Brytanien warn zwen konig by alten zyten, die waren gebrudere von vatter und von mutter, und sie hatten zwo schwester zu wybe. Der eyn von den zweyn konigen hieß Ban, und der ander konig was geheißen Bohort von Gaules; und der konig Ban was ein alt man, und syn wyp was ein junge Frau und was von all der Welt geminnet...“ So geradewegs und unpompös fährt die Geschichte ab und hält lange nicht mehr an. Der alte König und die junge liebenswerte Königin haben einen Sohn, der auf den Namen Galaad getauft, von aller Welt aber nur Lancelot gerufen wird, ein vollkommenes, „das schönste Kind, das je ein Mensch gesehen“. Leider bald ein Waisenkind, denn der alte König stirbt an gebrochenem Herzen, als er seine Burg und sein Reich verliert an einen bösen Usurpator, die Mutter geht ins Kloster, der kleine Lancelot aber verschwindet in den Fluten des magischen Sees einer Fee, die ihn, der bestimmt ist, der Beste zu werden, aufzieht und beschützt.

Mit 18 kommt Lancelot dahin, wo die besten Ritter gemacht werden, an den Hof des König Artus, und hat die Begegnung seines Lebens: „Als er ihre Hand spürte, erschrak er, als ob er aus einem Traum erwachte.“ Dem Besten die Schönste, geht die höfische Regel, und damit wäre eigentlich alles klar, wäre sie nicht Ginover, die Gattin des Königs. Die Sache scheint aussichtslos, Liebe aber ist, was man trotzdem macht: Lancelot wird der Beste aller Liebesritter, ein Abenteurer, der nichts ausläßt. Auch nicht den Ritter mit dem Splitter, der nur zu retten ist, wenn der Retter-Ritter dann künftig gegen jeden antritt, der sagt, der hätte jenen, der den Splitter-Ritter verwundet, lieber als diesen – so kompliziert-kasuistisch können Aventüren sein. Es sind verzauberte Burgen zu erlösen, Kriege und Turniere zu gewinnen, bedrängte Jungfrauen zu befreien, es geht in das gefährliche Bett und auf grausige Friedhöfe, gegen Carcados vom Jammervollen Turm und Arrement den Fetten, gegen böse Zwerge und Zauberinnen, oft gegen einen und manchmal gegen hundert, und daß der beste Ritter der Welt hier alles und jeden siegreich besteht, überrascht nach spätestens tausend Seiten und hundert Kämpfen niemanden mehr. Es mußte wohl hundertmal gesagt werden: wie adelige Körper aufeinanderprallen, erst zu Pferde und mit der Lanze, dann zu Fuß und mit dem Schwert, und wie dann der eine dem andern entweder den Kopf abschlägt oder auch nicht. Davon ist im Prosa-Lancelot mit archaischer Ausdauer die Rede, das empört und langweilt den friedliebenden Leser von heute, siebenhundert Jahre danach.

Der lange Untergang

Doch im dauernden Siegen ist das große Untergehen schon angelegt. Die Liebe unseres Liebesritters bleibt nämlich nicht aussichtslos und rein, es kommt – Dante-Leser wissen schon Bescheid – zum Kuß und am Ende gar zum Äußersten und vielfachem Ehebruch. Noch hält die gute Fee vom See als Agentin der höfischen Liebe ihre Hand schützend über Lancelot und Ginover, doch auch sie weiß, daß hier gegen das christliche Gesetz verstoßen wird. Der höfischen Gesellschaft gegenüber reicht Geheimhaltung, aber der liebe Gott sieht alles. Das kann nicht gut gehen und geht auch nicht gut, aber derlei bleibt in Band eins und zwei einstweilen nur dunkle Ahnung. Auch daß der vollkommenste Protagonist der Tafelrunde am Ende die höchste Bewährung verfehlt: Der beste Ritter scheitert am Gral, weil es dafür nicht mehr reicht, nur der beste Ritter zu sein. Der Prosa-Lancelot ist eine einzige lange Untergangsgeschichte. (Gralskönig wird Tausende Seiten später übrigens Lancelots Sohn Galaad, der nicht nur so getauft, sondern auch so gerufen wird – Namen sind wichtig.)

So gelesen, ergibt das stereotyp hundertfache Kopfabschlagen wohl nicht nur für den friedliebenden Leser von heute ein nüchternes Panorama der Sinnlosigkeit. Die Hauptfigur selbst trägt Züge des Melancholikers. In der Nähe der Geliebten wir der perfekte Ritter linkisch, verwirrt, einfältig, er vergißt sogar seinen Namen und läßt sich vom Dümmsten aller Ritter gefangennehmen. Denkt Lancelot an Ginover, verliert er sich in Gedanken: „Da der ritter hort sagen von der koniginn, da ließ er das heubt hangen und begunde fast sere zu gedencken, also daß im sinselbes vergaß“ (762) – da „senkte er den Kopf und fiel in so tiefes Sinnen, daß er sich selbst vergaß“. Gleich mehrfach wird Lancelot wahnsinnig und kann nur durch magische Salben, vor allem durch die Nähe Ginovers geheilt werden. Das ist die andere Seite der Rübe- ab-Ritterwelt: die der Gedankenverlorenheit. Auch die der bösen Träume.

Ein Bildungserlebnis

Die Mühe, die der Paderborner Germanist Hans-Hugo Steinhoff in den Mega-Roman mit dem seltsamen Helden gesteckt hat, ist wohl eine, die Kollegen dann gern „entsagungsvoll“ nennen. Wir möchten sagen, daß sie sich gelohnt hat. Steinhoff hat für die Übersetzung einen wunderbar flüssigen Ton gefunden, der die Brüche und Fremdheiten des Originals nicht wegerklärt, sich nicht auf Kosten der Quelle profiliert, nichts dazutut und erstaunlich viel vom Originalklang bewahrt. Das hilft auch über Durststrecken und macht immer wieder neugierig, auf der linken Seite mitzulesen (die maßgebliche Heidelberger Handschrift von 1475 bietet ein schon dem Frühneuhochdeutschen angenähertes gut verständliches Mittelhochdeutsch). Steinhoffs Ausgabe bringt die überhaupt erste Übersetzung eines der erfolgreichsten Romane des Mittelalters und einen lehrreichen Kommentar – den überhaupt ersten Lancelot-Kommentar. Der Herausgeber wünscht seiner Ausgabe im Nachwort einen „weiteren Leserkreis“ als nur die Philologen. Den braucht es auch, damit dem Verlag der lange Atem für die lange Geschichte nicht ausgeht. Drei von vorgesehenen fünf Bänden fehlen noch, und wir wollen wissen, wie es weitergeht.

Auf den modernen Leser warten immerhin überraschende Bildungserlebnisse. Wenn am Ende der populären Kinokomödie „Männerpension“ Til Schweiger und Detlef Buck, wieder hinter Gittern, ihren Frauen nachschauen und einer zum anderen sagt: „Liebe macht stark“ oder so, und der andere dann die Gitterstäbe verbiegt, dann zitiert Buck einen siebenhundert Jahre alten Text. Lancelot und Ginovers Liebe durch Gitterstäbe: „Sie legte sich in ihr Bett, und Lancelot löste das Eisengitter so leise heraus, daß es niemand hören konnte.“

„Lancelot und Ginover“. (Prosalancelot I und II). Übersetzt, kommentiert und neu herausgegeben von Hans-Hugo Steinhoff. Deutscher Klassiker Verlag Frankfurt. 2.400 Seiten, geb., 248 DM

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