Illegaler Zarenfilmer

■ Constant Girel drehte Militärparaden und Staatsmänner. Das Zeughaus-Kino zeigt Filme von Lumière-Operateuren

„Wissen Sie, wie man ein Foto macht?“ Als ein Ja folgte, hieß es: „Nun müssen Sie nur noch drehen.“ Weitere Anweisungen bekam Constant Girel nicht. Er war Anfang Zwanzig und hatte gerade seinen Militärdienst hinter sich gebracht. Sein Vater wollte, daß er in Lyon Pharmazie studierte.

Statt dessen wurde er einer der über 100 Operateure, die in den Jahren 1896 und 97 im Auftrag der Firma Lumière & Söhne durch die ganze Welt reisten. 40 Filme von etwa einer Minute Länge drehte er mit dem Kinematographen. Sie flimmerten bei der Projektion zwar auch schon damals ein bißchen. Aber dafür fingen sie zum ersten Mal bewegtes Leben auf einer großen Leinwand ein.

Daß sich unter Constant Girels Filmen auch sechs deutsche befinden, ist dem Kölner Süßwaren- und Automatenfabrikanten Stollwerck zu verdanken. Er hatte im März 1896 die Konzession für die Auswertung des Kinematographen Lumière in Deutschland erworben. Die Lyoner Filmindustriellen schickten Girel daher zuerst nach Köln.

Die Deutzer Schiffsbrücke in Köln. Der Wärter öffnet die Schranke. Eine Kutsche bahnt sich ihren Weg durch die sonntäglichen Ausflügler. Eilig rennt ein Mann mit Fahrrad ins Bild. Der kleine Junge, der zu nahe auf die Kamera zuzukommen droht, weicht noch rechtzeitig aus. Nur ein bärtiger Herr mit Regenschirm und Hut schaut sich neugierig um. „Die Leute waren sich nicht dessen bewußt, daß sie gefilmt wurden“, erzählt Denise Boähm-Girel, seine heute 71jährige Tochter.

Girel setzt seine Reise schon am selben Tag fort. In Breslau soll er der Enthüllung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals beiwohnen. Dort dreht er fünf Rollen und nennt sie damals „vues cinémat“: Von einem erhöhten Standpunkt zeigt die Kamera, wie sich die Menschen, Pferde und Reiter mit Pickelhaube vor dem verdeckten Denkmal gruppieren. Plötzlich fällt der Schleier, die Menge jubelt. Ein Mann winkt begeistert mit seinem Zylinder und verdeckt damit einen Teil des Bildes.

„Offizielle Anlässe waren damals in Mode“, antwortet Denise Boähm-Girel lächelnd auf die Frage, warum ihr Vater nicht mehr Stadt- oder Landschaftsaufnahmen gemacht habe. Pompöse Feierlichkeiten eigneten sich schließlich hervorragend dazu, Massenornamente in Bewegung zu zeigen. So filmte der junge Mann am 26. September 1896 in Görlitz die preußische Militärparade zu Ehren von Zar Nikolaus II. und der Zarin – und das, obwohl ihm die Erlaubnis fehlte.

Ein Treffen mit Bismarck am 18. September kommt nicht zustande, der alternde Kanzler läßt sich entschuldigen. Auf Anordnung Lumières bleibt Constant Girel in Deutschland. Vier Tage später bekommt er nicht nur eine Tiroler Tanzgruppe vor die Kamera, sondern hat auch eine neue Idee. Er schreibt: „Gestern schönes Wetter, ich habe vier sehr schicke Aufnahmen [...] aufgenommen vom Boot aus, das von Koblenz kommend Köln erreicht, ich obendrauf [...].“ Sollte etwa er die erste „Kamerafahrt“ der Filmgeschichte gedreht haben? Der Briefauszug läßt hierauf schließen, auch wenn bislang der berühmte Operateur Promio dieses Verdienst in seinen Memoiren für sich in Anspruch genommen hatte.

Girels Aufenthalt in Deutschland dauerte nur vom 2. bis 28. September 1896. Anschließend ging er in die Schweiz, nach London, Turin, schließlich fast ein ganzes Jahr nach Japan. Seine Tochter behielt ihn als einen charmanten „Draufgänger“ in Erinnerung – und immer mit Bart und Hut. Doch als Pionier oder Abenteurer habe er sich selbst nie gesehen. „Wir sind es, die ihn dazu machen.“

Im Rahmen der Reihe „100 Jahre Berliner Kino“ stellt der Filmhistoriker Martin Loiperdinger vom Deutsches Institut für Filmkunde heute 33 deutsche Filme von Lumière-Operateuren vor. Constant Girel ist der einzige, dessen Urheberschaft definitiv bestimmt werden kann. Anja Sieber

Heute, 20.30 Uhr, Zeughauskino, Unter den Linden 2, Mitte