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Dieses Heimweh nach Auschwitz

„Roman eines Schicksallosen“: Imre Kertész, Gefangener in Auschwitz und Buchenwald, hat einen erschütternden Bericht über das Glück des Lagers geschrieben  ■ Von Peter Michalzik

Das Murmeln war hier, mitten im Glied, nur eben knapp hörbar, dafür aber andauernd, wie ein unterirdisches Grollen: „Jiskadal, wöjiskadal“, erklang es in einem fort – das sogenannte „Kaddisch“, das Gebet der Juden zu Ehren der Toten. Das Kaddisch ist bis heute Teil des jüdischen Gebetsalltags, bei den Gedenkfeiern in Auschwitz im vergangenen Jahr stand es im Mittelpunkt. Obwohl ein Totengebet, ist sein Inhalt der Lobpreis Gottes, seine Form die Wiederholung und Steigerung dieser Verherrlichung. In Auschwitz und Buchenwald war das unterirdische Grollen eine letzte Rettung, eine sozusagen „vorgeschriebene Art des Eigensinns“, wie Imre Kertész es in seinem jetzt auf deutsch erscheinenden „Roman eines Schicksallosen“ nennt.

1990 hat Kertész sein Auschwitzgebet veröffentlicht, den Roman „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“. Ein „Nein!“ hat hier die rituelle Rolle der sich steigernden Wiederholung übernommen. „[...] daß ich ,Nein!‘ sagte, augenblicklich, sofort und ohne zu zögern, gewissermaßen instinktiv, ja, noch instinktiv, einstweilen nur instinktiv, wenn auch mit Instinkten, die gegen meine natürlichen Instinkte arbeiten, aber bereits zu meinen natürlichen Instinkten, ja mehr noch, zu meiner Natur werden – geworden sind –; dieses ,Nein!‘ war also keine Entscheidung, so als könnte ich mich, sagen wir, frei für ,ja‘ oder ,nein‘ entscheiden – als hätte ich frei entscheiden können –, nein, dieses ,Nein‘, diese Entscheidung war eine Erkenntnis [...]“

Wer vor vier Jahren die deutsche Übersetzung dieses Buches in die Hände bekommen hatte, mußte denken, daß Thomas Bernhard wiedererstanden sei und dabei zu sich selbst gefunden hatte. Da sprach einer genau wie Bernhard, und trotzdem war alles ganz anders. Das traumatisierte Sprechen – der ewige Redezwang einerseits und die unausgesetzte Sprachaufhebung andererseits –, was bei Bernhard immer mehr zu Manie und Manier geworden war, bei Kertész war es durch den biographischen Hintergrund wie geerdet. Da rang einer, schon über 60 Jahre alt, noch immer um Worte, obwohl und gerade weil er schreiben konnte. Kertész, diese Feststellung ist skandalös und trotzdem wahr, hat als Schriftsteller den Vorteil, Auschwitz und Buchenwald erlebt zu haben.

In seinem Kaddisch kommuniziert er mit dem Kind, das er nie gezeugt hat. „Mein Dasein als die Möglichkeit deines Seins betrachtet“ ist dabei erzählerischer Leitfaden. „Dein Nicht-Sein als radikale und notwendige Liquidierung meines Seins“ die Konsequenz. Kertész gelangt hier schreibend zu der Erkenntnis, daß Schreiben und Nicht-Sein sich gleichen: Er schaufele sich schreibend weiter sein Grab in den Wolken, sagt er, in Einklang mit Celans Todesfuge.

1993 erschien in Deutschland Kertész' „Galeerentagebuch“, Aufzeichnungen aus den Jahren 1961–91. Kertész schreibt hier viel über deutsche Literatur und Philosophie, er verdiente sein Geld lange als Übersetzer aus dem Deutschen. Seine geistige Prägung bezog er neben dem Nachkriegs- Existentialismus vor allem von deutscher Kultur. Im Mai 1980 besuchte Kertész Berlin, bei einem Abstecher nach Weimar notierte angesichts der günstigen Weltkonstellation, in der der Klassiker und deutsche Nationaldichter Goethe geboren wurde, die Unbilden seiner eigenen Biographie, um dann zu enden: „Ich war ein mäßig eifriges, nicht immer untadeliges Mitglied der lautlosen Verschwörung, die sich gegen mein Leben richtete [...]“ Dieser Satz beschreibt die Atmosphäre der Verstrickung, in der der „Roman eines Schicksallosen“ geschrieben ist. Ein Fünfzehnjähriger beschreibt in diesem Buch die Deportation, die Zugfahrt aus Budapest, die Selektion an der Rampe, vier Tage in Auschwitz, wieder Zugfahrt, Buchenwald, Arbeitslager Zeitz, Erkrankung und Lazarett, Befreiung, Rückkehr als Sechzehnjähriger.

Ein Bildungsroman

Das Besondere an diesem Jungen ist die Mischung aus Naivität und Objektivität. Er erklärt nichts, sondern gibt wieder, was er sieht, fühlt und erfährt. Seine Reise in die Welt der Konzentrationslager wird für ihn ein Weg der Erkenntnis, der kleine Junge wird in diesem Jahr zum Mann. Zurückgekehrt, empfindet er seine Verwandten beim Reden über Auschwitz als unwürdige, geistig unterlegene Gegner.

Es handelt sich beim „Roman eines Schicksallosen“ um einen Initiations- oder Bildungsroman, eine Form, deren Prototyp Goethe im „Wilhelm Meister“ geschaffen hat. Kertész' Held ist aber eher ein Prinz von Homburg: voller Urvertrauen stolpert er in ein Schicksal, von dem er nicht einmal ahnte, daß es auf ihn gewartet hat. Bevor der Junge seine Reise antritt, lernt er in Folge der Deportation seines Vaters die übliche Erklärung des Geschehens kennen. Er hört vom „gemeinsamen jüdischen Schicksal“, „den Unterschied tragen wir in uns“, heißt es. Gegen diese Beschreibung verwahrt sich der Junge, und der Titel des Buches wiederholt diesen Widerstand.

Was er wirklich erlebt, ist anderes. In Auschwitz beobachtet er die Deutschen: „Ich hatte auch zu Hause oft deutsche Soldaten gesehen, versteht sich. Da aber waren sie immer in Eile gewesen, immer mit geschäftiger Miene, immer in einwandfreiem Anzug. Hier nun bewegten sie sich anders, nachlässiger, irgendwie – das habe ich beobachtet – heimischer.“ Mit diesen Deutschen, auch das beobachtet der Junge, verbindet ihn ein tiefes Einverständnis, das ihn selbst erstaunt. Lange ist er ihnen gegenüber voller Wohlwollen: „Auf jeden Fall nimmt man etwas Neues überall, selbst in einem Konzentrationslager, zunächst mit gutem Willen in Angriff.“

Und er lernt einzusehen, daß die Nazimethoden ihre eigene Logik haben. Von einem Mitglied der Organisation Todt wird er zum Säcketragen weit jenseits seiner physischen Grenzen gezwungen: „Zu guter Letzt spielten wir einander beinahe schon in die Hände, kannten uns schon, beinahe las ich schon so etwas wie Befriedigung, Zuspruch, um nicht zu sagen Stolz in seinem Gesicht, womit er, das mußte ich zugeben, unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen sogar recht hatte: wenn auch schwankend, gekrümmt, zuweilen mit Schwärze vor den Augen, so hielt ich doch durch.“ Aber er fährt fort: „Andererseits fühlte ich am Ende dieses Tages, daß etwas in mir unwiederbringlich kaputtgegangen war, von da an dachte ich jeden Morgen, es sei der letzte [...]“

Ohne es an sich selbst zu merken, erst durch die Wahrnehmung, daß die Deutschen „immer schöner“ werden, wird ihm bewußt, daß er auf die Stufe bloßen Vegetierens abrutscht. Aber auch auf dieser Stufe, auf der Überleben nur möglich ist, weil man sich langsam an sie gewöhnt, wie er später sagt, stellt er Einverständnis mit seiner Umgebung her. Er lernt hier die rudimentärsten Formen des Denkens und Fühlens kennen. „Ich kann behaupten: Es gibt keine noch so große Erfahrung, keine noch so vollkommene Ergebenheit, keine noch so tiefe Einsicht, daß man seinem Glück nicht doch noch eine letzte Chance gäbe. Als ich nämlich mit all denen, an deren Arbeitsfähigkeit offensichtlich keine großen Hoffnungen mehr zu knüpfen waren, nach Buchenwald, an den Absender gewissermaßen, zurückgeschickt wurde, da teilte ich mit allen mir verbliebenen Fähigkeiten natürlich die Freude der anderen, weil mir sofort die schönen Tage von damals, und ganz besonders die morgendlichen Suppen, in den Sinn kamen.“

Der Junge besteht nach der Zugfahrt nur noch aus „sterblichen Überresten“, die Lebensfunktionen sind fast erloschen, die Wahrnehmung auf ein Minimum reduziert, es bleibt die Selbstbeobachtung: „Erst da habe ich erfahren, daß die Eitelkeit ein Gefühl ist, das einen anscheinend bis zum letzten Augenblick begleitet, denn wie sehr mir diese Ungewißheit auch zusetzte, ich richtete nicht eine einzige Frage, nicht eine einzige Bitte, nicht ein einziges Wort, keinen einzigen Blick nach hinten zu dem oder denen, die mich schoben.“

Imre Kertész begreift das Konzentrationslager als Schule des Lebens. Non scolae, sed vitae discimus, lernt der Junge in der Schule. Dann hätte er ja, betont er, ausschließlich für Auschwitz lernen müssen. Statt dessen ist der Junge der Meinung, daß „wir gewisse Dinge erst in einem Konzentrationslager wirklich verstehen.“ Kertész hat zehn Jahre an diesem Roman geschrieben, er ist mit ihm zum Schriftsteller geworden. Als er 1975 in Ungarn veröffentlicht wurde, wollte niemand von ihm wissen, erst seit den 80er Jahren genießt er in Ungarn, allerdings sehr beschränkte, Anerkennung.

Kertész schafft es, vom Konzentrationslager gleichzeitig aus Erfahrung und mit der vollkommenen Distanz des Beobachtens zu berichten. Manchmal glaubt man, daß seine Erzähltechnik darin bestünde, die elementaren Gefühle auszusparen: Angst, Trauer, Liebe, Hoffnung. Aber das stimmt nicht. Die Gefühle sind da, dieses Buch vibriert manchmal davon, aber sie werden wie von außen beschrieben, im Licht einer allgemeinen Erkenntnis. Und dabei stellt sich heraus, daß Liebe, Angst und Trauer eben nicht die elementarsten Lebensregungen sind.

Das Buch ist auch eine Schule für den Leser. Indem es Gefühle nicht abnimmt, funktioniert es wie ein Lackmustest. Der Leser kann sich angesichts dieses Textes in Selbstbeobachtung üben. An den Reaktionen auf dieses Buch kann man besser als an allen Debatten über ein Holocaust-Denkmal ablesen, wie die eigene Verfassung angesichts Auschwitz ist.

Dieses schöne Lager

Ein Beispiel: Weil der Junge so ungerührt, so gleichmütig mit der Lagerwelt und seiner Opferrolle umgehen kann, hat er auf mich im ersten Moment monströs gewirkt. Weil die Monstrosität des Lagers, so wie wir uns es vorstellen, ihn nicht berührt zu haben scheint, weil er nicht von den Greueln redet, überträgt sich dessen Monstrosität auf ihn, er wird zu einer Art Übermensch.

Vielleicht geht Kertész in seinem Bestreben, dem Bericht das Opferpathos auszutreiben, manchmal zu weit. Er wählt einen leichten Plauderton, und es kommen einfach zu viele „nun ja“, „naja“, „ein bißchen“, „natürlich“, „ich gebe es zu“ vor.

Seinen Höhepunkt hat das Buch in dem ungeheuren Satz, den der Junge am Nullpunkt seiner Existenz für sich formuliert: „Und alles Abwägen, alle Vernunft, alle Einsicht, alle Verstandesnüchternheit half da nicht – in mir war die verstohlene, sich ihrer Hartnäckigkeit selbst schämende und doch immer hartnäckiger werdende Stimme einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören: ein bißchen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager.“ Wenn es in diesem Buch irgendwo Sentiment gibt, dann hier, in dieser provokanten Liebeserklärung an das KZ. Die Szene hat ihr Echo in späterem Heimweh und der Erkenntnis, daß es für ihn sogar zwischen den Schornsteinen etwas gab, das dem Glück ähnlich war.

Der Junge überlebt, weil er in die Krankenstation kommt, weil er hier Solidarität erlebt, weil das Lager befreit wird. In Budapest muß er bemerken, daß er seine Erfahrung nicht verständlich machen kann, daß sie erst Mitleid und dann Empörung auslöst. Es bleibt ihm die Einsicht, daß im KZ alles Schritt für Schritt geht, jeder macht immer und überall seine Schritte, solange er kann. Erst hinterher rundet sich das zu einem Ganzen und erscheint wie Schicksal.

Dieses Buch belegt auf überwältigende Weise, welch mächtiges Instrument das Erzählen ist. Kertész hat es geschafft, Auschwitz eine eigene Ästhetik abzugewinnen, die vor dem „Ungeheuerlichen“, der „Hölle“ bestehen kann. Im „Galeerentagebuch“ notiert Kertész: „Das Autobiographischste an meiner Biographie ist, daß es in ,Schicksallosigkeit‘ nichts Autobiographisches gibt. Autobiographisch ist, wie ich darin um der großen Wahrhaftigkeit willen alles Autobiographische weggelassen habe.“ Das Buch ist streng komponiert, die Sprache mit der erwähnten Ausnahme vollkommen durchgestaltet.

Kertész' „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ handelt vom Weiterleben der KZs heute, es geht nicht darum, was sie waren, sondern darum, was sie heute sind. Als Faktum ist Auschwitz nahezu unbestritten, trotzdem verflüchtigt es sich. Im Gespräch stellt Kertész die Frage, warum eigentlich die Neonazis Auschwitz leugnen, das sie doch als logische Konsequenz ihrer Gesinnung bejahen müßten. Er folgert daraus, daß der Antisemitismus durch Auschwitz seinen Platz in der Geschichte verloren hat und sich also gewissermaßen selbst überlebt hat.

Das neueste Kapitel der Geschichte des Verschwindens ist der Streit um das Buch von Daniel Jonah Goldhagen: Der große Lärm einer ideologischen Diskussion, hinter der die einfache Existenz des Lagers verblaßt. Von dem, was Kertész in seinem Satz über Biographie und Autobiographie mit Wahrhaftigkeit meint, haben Historiker vom Schlag Goldhagens nicht mal einen Begriff. Fast immer ist es ein Lippenbekenntnis, wenn man sagt, daß Dichtung wahrer als Geschichtsschreibung sei, gestritten wird dann doch über Thesen. Wer Kertész liest, wird von der Lust am sinnlosen Debattieren geheilt.

Kertész sagt im „Galeerentagebuch“ vom 25. Oktober 1987, sein Schreiben folge einer inneren Notwendigkeit. Seine Bücher seien ihm „wie die Frucht einer Pflanze entwachsen“. Der Junge hat sich als dem Konzentrationslager überlegen erwiesen, er hat ihm das Glück der Erkenntnis abgetrotzt.

Imre Kertész: „Roman eines Schicksallosen“. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt Berlin 1996, 288 Seiten, geb., 38 DM

Außerdem im selben Verlag: „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ (1992)

„Galeerentagebuch“ (1993)

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