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„Ich tanze gern“

Der Großbauer, Zuchthäusler, Hochstapler und Schriftsteller Emil Kort zog mit Pferd und Wagen durch die DDR. An der Elbe überkam ihn der Katzenjammer. „Rübeland selbst gibt mir gar nichts!“ Ein Porträt  ■ Von Helmut Höge

Das kleine Dorf Kampehl in der brandenburgischen Prignitz war bisher vor allem durch den Ritter Kahlbusch bekannt, dessen nicht- verwesende Leiche in der kleinen Kirche aufgebahrt ist, wo sie täglich von vielen Reisegruppen besichtigt wird. Der Ort hat deswegen einen Parkplatzgebührenautomaten sowie mehrere Gaststätten und Töpferläden. Die Hälfte gehört der Familie Kort: alteingesessene Bauern. Emil Kort, 1927 geboren, zog 1984 für einige Monate mit Pferd und Wagen 1.200 Kilometer durch die DDR. Von Stefan Heym ermutigt, machte er sich anschließend an die Niederschrift seiner Reiseerlebnisse. 1986 begann er, dafür einen Verlag zu suchen. Schließlich erschien das Buch – „Einfach losfahr'n“ – nach der Wende in Kooperation mit dem Schwiegersohn von Hans Modrow in seiner Selbst-„Verlagsanstalt Kampehl“ – und wird dort seitdem neben den Töpferwaren seiner zwei Kinder und dem Honig eines befreundeten Imkers verkauft.

Für Emil Kort war die DDR- Tour mehr als nur ein längerer Urlaub: Schon gleich nachdem er Kampehl und seine „Sippe“ hinter sich gelassen hat, überkommt ihn „ein Gefühl der Freiheit. Ich muß mich abreagieren, ich brülle und schreie, alles was mich in letzter Zeit bedrückt hat, schreie ich aus mir heraus. Auf einmal bin ich mächtig stolz auf mich. Seit langem mein erstes großes Erfolgserlebnis.“ Er geht mit seinem Pferd Benno in südwestlicher Richtung. Oft übernachtet er bei Pastoren, die meist eine Flasche Wein spendieren. An der Elbe überkommt ihn der Katzenjammer: „Was soll bloß dieser ganze Blödsinn: Einfach so losfahren, fremde Leute um Unterschlupf zu bitten? Bin ich ein Bettler? So stiere ich vor mich hin.“ Diese kleine Identitätskrise stellte sich hinter dem Dorf Jericho ein. Später sagt er sich deswegen: „Ein zweites Jericho darf es nicht geben!“ – Das hilft, zum Beispiel gegen allzu viele dumme Frager oder „satte Kleinbürger“, die ihm überall begegnen, vor allem in Urlaubsorten: „Bei vielen ist das Essen das wichtigste. Und natürlich das Auto.“ Manche helfen ihm nur seines Pferdes wegen, für die arbeitende Bevölkerung ist er nicht selten eine „Provokation“ oder ein „Asozialer“, umgekehrt macht ihn „der Lärm der Trabbis verrückt“. Er denkt sich immer wieder neue Geschichten über den Grund seines Unterwegsseins aus, die er den Leuten in der Kneipe erzählt. Überhaupt ist in seinem Buch viel von den Kneipen die Rede, die er mehrmals am Tag ansteuert, um zu essen und mit jemandem zu reden. Stefan Heym sagte nach der Lektüre: „Ich wußte gar nicht, daß es so viele Lokale in der DDR gibt.“ Mitunter wird Kort auch zu Feierlichkeiten eingeladen oder besucht eine Tanzveranstaltung: „Ich tanze so gern.“ So erreicht er den Harz: „Das ist doch ein echter Erfolg! Noch heute abend rufe ich zu Hause an. Die sollen staunen!“ Auch andere staunen: In Treseburg sind es drei ältere Damen, die ihn in ein Café einladen: „Für sie bin ich ein richtiger Mann, wie im Fernsehen.“ Trotz solcher Aufbauhilfen kommt er immer wieder ins Grübeln: über „den Sozialismus“ und seine „Organe“, über das „Spießbürgerleben hinter den (handgeschmiedeten) Zäunen“ zum Beispiel, aber auch über sein Leben: „Meine Großeltern waren Landarbeiter und Vater das achte Kind. In zwei Generationen haben sie sich eine Landwirtschaft aufgebaut, und ich liege jetzt bei Altenbrak im Heu und mache einen auf Aussteiger.“ So gibt ihm die Reise Gelegenheit, zu sich selbst zu finden, wie man heute gerne sagt. Und nicht nur das: „Das Leben kann auch schön sein, stelle ich mal wieder fest“ (hinter Wiesenburg, schon auf dem Rückweg).

Den Ort hinter dir, die Freiheit vor dir

Kurz bevor er wieder sein Dorf Kampehl erreicht, die Maisernte hat bereits begonnen, notiert Kort: „Morgen wird Benno sein Geschirr los, ich lege es mir wieder an. Aber ich habe mich wenigstens einmal losgerissen. Bin einfach losgefahren.“ Einer Journalistin erklärt er später gutgelaunt: „Das geht ja vielen Männern im mittleren Alter so, daß sie mal raus aus allem müssen, und dieses andere Lebensgefühl, das stellt sich in dem Moment ein, wo du den Ort hinter dir läßt und die Freiheit vor dir liegt – Einbildung natürlich, echte Einbildung.“ Jetzt, 1996, ist Emil Kort Rentner, gelegentlich besucht er Treffen von Pferdefreaks in der Umgebung, von denen es seit der Wende immer mehr gibt. Er selbst hat auch noch zwei Pferde. Und spätestens seit seinem „Vagabundenleben“ auf Zeit hat er ein Faible für „Verrückte“ und „Spinner“ aller Art. Seine verheirateten zwei Kinder kaufen derweil ein altes LPG-Gebäude nach dem anderen im Dorf auf und bauen ihre Gaststätten und Töpfereien aus: „Mein Sohn, der hat die Marktwirtschaft kapiert.“ Der alte Kort und seine Frau haben nicht viel mehr zu tun, als 100 Hühner zu versorgen und die Karpfen im Fischteich zu füttern.

Vor einigen Monaten besuchte er ein Treffen seiner ehemaligen Klassenkameraden im Gymnasium Wittenberge: Kein einziger hat das Abitur gemacht, nur sieben waren überhaupt erschienen. In Wittenberge war Emil Kort bei der Reiter-HJ gewesen: „Da konnte ich oft dem Unterricht fernbleiben.“ 1944 wurde er eingezogen: zu einer berittenen Aufklärungs- Abteilung (sic!). Auf der Flucht vor der Roten Armee ergab sich seine Einheit bei Parchim den Amerikanern. Kort kam in das englische Gefangenenlager Gorleben. Dann zu einem Bauern bei Lüneburg. Von dort versuchte er, nach Wittenberge über die Elbe zurückzugelangen. Ein russischer Soldat ruderte ihn rüber. Aber er landete bald in einem Gefangenensammellager, von wo aus es zu Fuß nach Frankfurt an der Oder gehen sollte, und von da wohlmöglich nach Sibirien. Unterwegs gelang Kort aber die Flucht.

Am Morgen des 24. Juni 1945 kommt er wieder in Kampehl an. Sein Vater arbeitet gerade auf dem Feld. Nachmittags hilft er ihm bereits beim Kartoffeln anhäufeln. Wenig später lernt Emil Kort seine Frau kennen: Sie war als Flüchtling aus Küstrin mit dem Handwagen direkt durch sein Dorf gekommen. 1952 heiraten die beiden, nachdem der Vater ihm den 84-Hektar-Hof überschrieben hat. Aber damit fangen die Probleme an. „Das war, als der Parteitag der SED den Aufbau des Sozialismus beschloß: Da war ich auf einmal ein Kulak und Mensch zweiter Klasse.“ Es fand ein Schauprozeß in Kyritz gegen die drei größten Bauern statt, die Anklage lautete auf „Sabotage“. Kort wurde zu 8.000 Mark Strafe verurteilt, wegen nicht-termingemäßer Ablieferung tierischer Produkte, die er mit seinem Ackerbaubetrieb aber gar nicht erwirtschaften konnte. Man pfändete sein Konto. Ein Jahr später, 1953, wurde er erneut verhaftet – wegen „Staatsbetrugs“: Da er kein Diesel für seinen Traktor bekam, bat er einen Brigadier der Maschinen- und Traktoren-Station, ihm nach Feierabend acht Hektar zu pflügen, was der auch tat. Hätte Kort den Acker unbestellt gelassen, wäre es Sabotage gewesen, so war es jedoch Staatsbetrug. Er wurde verhaftet und sein Hof beschlagnahmt. Seine Frau mußte ausziehen und ein staatlicher Verwalter zog ein, die Enteignung wurde ins Grundbuch eingetragen. „Nach vier Monaten Haft kam aber der Aufstand vom 17. Juni, und da bin ich rausgekommen, auch den Hof bekam ich wieder, ich habe dann formal nur die Hälfte, die andere Hälfte wurde auf meinen Bruder überschrieben, der studierte mittlerweile.“

Dann ging es eine Weile gut – bis 1957: „Da war wieder mal eine Wahl, und ich war zufällig im Wahlbüro, es war auch noch ein ,Aufklärer‘ da von der Partei, mit dem geriet ich in Streit. Ein Wort gab das andere. Heute muß ich sagen, der hatte eigentlich recht: Er sagte, im Bundestag säßen nur Vertreter des Kapitals. Damals habe ich aber natürlich die Demokratie drüben in Schutz genommen, kurz zuvor hatte ich gerade Adenauer und Otto Suhr, der trug immer eine Fliege, auf der Grünen Woche gesehen. Jedenfalls, ich verstieg mich dann zu der Bemerkung, daß sie am 17. Juni den Ul

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bricht in den Fluß hätten werfen sollen, da hatten sie in Rathenow nämlich, wo ich einsaß, das Gefängnis gestürmt und dabei einen namens Hagedorn in die Havel geschmissen... Oh, das war Mordhetze. Und so lautete dann auch später die Anklage: Mord- und Boykotthetze. Während ich im Knast saß, sammelte meine Frau für meinen Anwalt eidesstattliche Erklärungen von unseren Nachbarn und dem Bürgermeister, die mich entlasten sollten. Als sie alle zusammen hatte, erschien plötzlich der Abschnittsbevollmächtigte auf dem Hof, nahm sie ihr ab und ließ sie verschwinden.“

Kort wurde zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und kam nach Magdeburg. Von dort in den Kalibergbau, wo er im Dezember 1957 einen schweren Arbeitsunfall hatte: Eine entgleiste Lore zerschmetterte ihm ein Bein und er lag für zwei Jahre im Krankenhaus. Ab 1959 wurde sein Betrieb in Kampehl mehr und mehr in die LPG des Nachbarortes integriert. Kort konnte jedoch „ganz gute Bedingungen“ aushandeln und war fortan für die nebenan in einem Stall untergebrachten LPG- Schweine verantwortlich. Die Arbeit lag ihm zwar nicht, aber sie war nicht anstrengend, und er konnte sie sich einteilen. Auch Urlaub war jetzt möglich: Mit seiner Frau fuhr er nach Bulgarien, Ungarn und Polen. 1980 baute die LPG eine neue Schweinemastanlage, Kort ließ sich daraufhin freistellen und suchte sich eine andere Beschäftigung: Er wurde Heizer im Kinderheim von Kampehl, wo er dann sogar von seiner sozialistischen Brigade zum „Energiebeauftragten“ befördert wurde: „Von oben kam, ich sollte weniger Kohle verbrauchen und dafür eine Prämie kriegen, das paßte mir natürlich, die im Heim wollten aber, daß ich nur das Thermometer nach unten hänge, wo es bloß 18 Grad warm war.“

Im Frühjahr 1984 fuhr er mit seinem Auto nach Berlin zu Bischof Schönherr, der ihn einmal auf eine Reise ins Ruhrgebiet mitgenommen hatte. Kort informierte den Bischof darüber, daß die Kyritzer Stasi ihn bedrängt hatten, den Bischof, aber auch den Pastor von Neustadt, zu bespitzeln. Schönherr schickte ihn nach dem Gespräch noch zu seinem Nachfolger Bischof Forck. Auf dem Weg dorthin hatte Kort einen kleinen Verkehrsunfall, woraufhin ihm ein Jahr die Fahrerlaubnis entzogen wurde. Das gab schließlich den Anstoß für seine Reise durch die DDR – mit Pferd und Wagen.

Nach der Wende bekam er seinen Hof und den Acker zurück, den er dann verpachtete. Seinen Inventarbeitrag bekam er jedoch nicht wieder, weil die LPG in Liquidation ging: „Dabei wurde alles runtergerechnet, einen Stall, den wir in Eigenleistung teilweise gebaut hatten, den haben sie auf eine Mark geschätzt, so ungefähr. Dafür hat der Liquidator, ein Westberliner: Beckert, kräftig abgesahnt. Das finde ich ungerecht. Wieder angeschissen. Bei den Nazis angeschissen, bei den Kommunisten und jetzt schon wieder.“ Aber Emil Kort läßt sich dadurch nicht unterkriegen, im Gegenteil: „Mir fällt immer was ein!“, erst recht jetzt, wo ihn schon fast – mit 68 – die „Torschlußpanik“ befallen hat. Zunächst hat er sich an die Überarbeitung seines Reiseberichts gemacht.

Viele Gedanken und Wahrnehmungen, die er während seiner DDR-Tour mit dem Pferd 1984 notierte, kenne ich aus eigener Erfahrung: Im (West)„Deutschen Herbst“ 1977 zog ich nach einem Jahr Arbeit als landwirtschaftlicher Betriebshelfer in Norddeutschland mit einem Pferd in Richtung Süden durch die BRD. Zumeist übernachtete ich auf irgendwelchen Höfen, wo ich auch jeweils einige Tage oder Wochen arbeitete. Meine Reise entwickelte sich anders, als ich gedacht hatte, vor allem deswegen, weil an dem Tag, als ich losging, der SS-Obersturmbannführer und Arbeitgeberpräsident Schleyer entführt wurde und sich dadurch in der Folgezeit das politisch-soziale Klima Westdeutschlands veränderte. Viele Bäuerinnen, auf deren Höfen ich übernachtete, riefen zum Beispiel in Wiesbaden die kostenlose BKA-Hotline an, um sich die Stimmen von Terroristen anzuhören und mit meiner zu vergleichen. Damals führte ich unterwegs eine Art Tagebuch, das dann später ein Freund in Bremen in seinem „Impuls-Verlag“ veröffentlichte. Vieles daran ist mir mittlerweile peinlich geworden. Im Zusammenhang mit den Notizen von Emil Kort sei jedoch erwähnt, daß ich genau wie er unterwegs jede Menge Männer- Cowboy-Klischees reproduzierte, bei mir noch verstärkt dadurch, daß mein Pferd in jeder Kleinstadt schnurstracks auf die nächstbeste Marlboro-Reklametafel losging, weil es die Pferde für lebendig hielt. Auch das unverhältnismäßige Schwanken zwischen Größenwahn und Nichtigkeitsgefühlen überfiel mich. An einer Stelle – an der Mosel – noch dadurch verstärkt, daß ich nach einigen Haschischpfeifen mit zwei jungen Weinbauern eine Polizeistaats-Paranoia bekam: Ich befürchtete, man könnte das Geschriebene gegen mich verwenden. Emil Kort blieb auf seiner Tour beim bodenständigen Bier, gab sich dafür aber einmal in einer Kneipe bei Bernburg als Schriftsteller aus, ein anderes Mal – in einer Kneipe bei Ringleben – versuchte er sich als Dichter „ins rechte Licht“ zu setzen. Man hielt ihn für Strittmatter. Es gibt noch einen weiteren kleinen Unterschied zwischen meinem und seinem Unterwegssein: Der eine flieht aus der Landwirtschaft, der andere in die Landwirtschaft. Und während Emil Kort an vielen Orten geographisches Allgemeinwissen rekapituliert oder beispielsweise nur lapidar bemerkt: „Rübeland selbst gibt mir nichts!“, fühlte ich mich unterwegs bemüßigt, mein halbes literarisches Wissen und den ganzen Franzosen-Diskurs, den ich in meiner Satteltasche hatte, ins Tagebuch-Feld zu führen: grauenhaft!

Nichtsdestotrotz beschlossen wir beide neulich, die zwei Texte – meinen schwer entschlackt, seinen leicht erweitert – zusammen neu zu veröffentlichen. Aber alle mir namentlich bekannten Verleger winkten müde ab: „Kein Markt!“ Helmut Höge

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