: Oststuben – bedroht durch Aldimärkte
Zu zweit über den See rudern und über die Liebe reden: So schön kann die Welt nur noch im Ostfilm sein. Das 6. Schweriner FilmKunstFest steht unter dem bezaubernden Motto: „All you need is love – Die Welt braucht Liebe“ ■ Von Andreas Becker
„Jetzt sitzen wir hier und essen Popcorn.“ Festivaldirektor Karl Heinz Lotz ist von sich selbst überrascht. Wir sitzen im nagelneuen Schweriner Mega-Movies-Kinocenter, dem diesjährigen Austragungsort eines Filmfestivals, das Kunst kursiv schreibt: das 6. Schweriner FilmKunstFest. Fast zwanzig Jahre hat Lotz bei der Defa in Berlin Filme gedreht: „Da konntest du Sachen machen, die kann sich heute keiner mehr vorstellen.“ Lotz fällt das Popcorn auf den Schoß, als er erzählt, wie leicht es war, Drehtage noch und nöcher zu kriegen und wie sie es einmal geschafft haben, jemand in einem DDR-Film durchs Brandenburger Tor fahren zu lassen. „Das haben die nicht gemerkt.“
Traumhafte Zustände herrschten in den ersten fünf Jahren auch beim FilmKunstFest. So lange hatte sich Bonn verpflichtet, vier bis fünf Millionen Mark jährlich in die „Perle Mecklenburg-Vorpommerns“ zu pumpen. Das Geld versickerte nicht im malerischen Schweriner See, sondern bescherte den Neu-Hauptstädtern rauschende Büffetnächte im Schweriner Schloß, öffentliche Konzerte, Happenings, Events, Filme auf jeder bröckligen Brandwand der Altstadt. Plötzlich eroberten die Bürger sich zurück, was sie längst verloren hatten: ihre Stadt. Denn die Schweriner waren zu DDR- Plattenbauzeiten in eine Trabantenstadt umgesiedelt worden, man wohnte „auf dem Dreesch“. Inzwischen wird überall die von den Abrißbaggern vergessene Altstadt saniert, und den Jugendlichen, die man auf dem Festival kennenlernt, ist es peinlich, abends mit der Straßenbahn in den entlegenen Dreesch fahren zu müßen.
Absurderweise hat sich genau jetzt, wo Schwerin langsam wieder zu einer funktionierenden Stadt wird, das Filmfestival aus dem Zentrum verabschiedet. Man ist umgezogen in die neugeschaffene, künstliche Einkaufslandschaft „Bleicher Ufer“, am Rand der Altstadt. Eine herzlose Passage mit Aldi, Edekamarkt, Wachmännern und leerstehenden Büros. „Jetzt erkennt man Schwerin nur noch am Teppichboden“, sagt eine Besucherin aus Lübeck. Wir sitzen im bei Sonne gar nicht mal so ungemütlichen Innenhof der Kneipe „Oskar“, mit frisch gepflanzten Bäumen und Ziertannen in Holzblumenkästen. Abends hat man den Eindruck, daß die netten Jugendlichen Schwerins sich diese Kneipen nicht leisten können (oder wollen) und statt dessen immer mehr Schnösel anrauschen, deren rolemodels wahrscheinlich an der Hamburger Alster wohnen.
Freiwillig war der Umzug vom altehrwürdigen Capitol in die neuen Schachtelkinos nicht. 1996 hat man nur noch einen Etat von knapp einer halben Million Mark. Wäre die Stadt nicht eingesprungen, hätte man das Festival vergessen können, sagt Lotz. Für die etwas entrückt anmutende Forderung „All you need is love“ hat er eine einfache Erklärung: „Zuerst habe ich mich in eine Frau hier verliebt und dann in die Stadt.“ Kryptischer formuliert es Kultusministerin Regine Marquardt: „Das diesjährige Motto läßt unendliche Möglichkeiten der Identifikation und Distanzierung zu.“ Es ginge um den „engagierten und ästhetisch wertvollen Film.“
Wie in jedem Jahr hat man sich ein Filmland als Schwerpunkt für das Filmforum gesucht. Diesmal zeigte man anderswo schon längst preisgekrönte Filme wie „Ladybird, Ladybird“ und „Naked“, beide von Mike Leigh, „Richard III.“ und den letzten Greenaway.
Engagiertes Kino eben. Ein wenig mut- und risikolos präsentiert. Neue „kleine“ Filme, amerikanische Independents oder asiatische Kamikaze will man den Schwerinern nicht zumuten. Zu fremd soll die Liebe denn doch nicht daherkommen. Lieber schön heimelig und vertraut. Und das heißt hier immer noch: Die DDR mag zwar tot sein, aber die gute alte Defa- Ästhetik darf nicht sterben. Retrospektive Sichtweisen können so schön gemütlich sein. Wurde früher zu zweit über den See gerudert und so intensiv übers Leben und die Liebe geredet, so authentisch gespielt, wie es das im Westen nicht gab – weil es dieses Leben abseits einer Warenwelt eben auch nicht gab –, versucht man, dieses Lebensgefühl in Filmen zu konservieren.
Mögen draußen die Menschen längst zu Kapitalisten geworden sein, sich selbst entfremdet – drin im Kino laufen weiter richtige Menschen umher, und wenn man vergißt, was draußen los ist, wirken diese auf der Suche nach sich selbst Seienden nicht einmal wie Ost-Dinosaurier. Da paßt es prima, nachmittags noch einmal Wenders „Paris, Texas“ anzuschauen. Hier merkt der Westler, daß auch er einmal auf der Suche nach dem war, was man früher Identität nannte.
Die eigentlich interessanten Filme laufen im Wettbewerb. Es sind ausschließlich deutschsprachige Produktionen. In „ Die Vergebung“ von Andreas Höntsch soll mit viel Pathos und grüner Wiese Stasivergangeheit aufgearbeitet werden. Leider mit dem pauschalen Fazit: jeder hat jeden verraten. Den Findling-Preis verdient sich die Komödie „Kaukasische Nacht“ von Gordian Maugg. Maugg, dessen sympathisch improvisierter Film über die Wirren eines deutschen Joint-venture- Kloherstellers in der untergehenden Sowjetunion, dessen Realisierung profundes Sozialismus-Wissen voraussetzt, ruft Verwirrung bei den Schwerinern hervor: „Ich bin überrascht, daß du aus Kassel kommst.“
Voller ins Herz der Ostgefühle kann nur jemand „von hier“ treffen: Andreas Kleinert. Für seine deutsch-russische Liebesgeschichte „Neben der Zeit“ gewinnt er den Hauptpreis, den „Goldenen Ochsen“. Hier sehen wir noch einmal die Welt, wie sie so schön nur im Ostfilm sein kann: Julia Jäger ist Reichsbahnerin in der Provinz. Ihr Bahnhof wird geschlossen, draußen jagen, „piau, piau“ die ICEs vorbei. Dort drinnen ist Westen. Hier, in der Stube, ist Osten.
Julia Jäger ist bezaubernd, die Kaffeetassen sind original DDR, und man fährt Wolga statt Golf. Alles ist so liebevoll. Wie gern möchte man sich überzeugen lassen, daß es diese Welt dort draußen noch irgendwo gibt. Aber Schrankenwärter sehen nun mal nicht aus wie Otto Sander.
Schwerin – das ist jetzt ein Einkaufszentrum mit Aldi und ein Teppichboden, auf dem steht tausendfach „Mega Movies“, wir essen Popcorn und wundern uns, daß es schmeckt.
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