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Zwei auf einem

■ Das Tandem führt eine Nischenexistenz. Neben dem Hauch des Exotischen bietet es allerdings auch handfeste Vorzüge

Lange Zeit galt das Tandem als das extravagante Gefährt unter den Fahrrädern, vornehmlich benutzt von Dichtern und Denkern, zum Beispiel den Eheleuten Grass oder Arno Schmidt nebst Gemahlin und skurrilen Briten. Heute ist es als die Möglichkeit wiederentdeckt worden, aufeinander abgestimmt und solidarisch radzufahren.

Schon 1890 schrieb ein gewisser Wilhelm Wolf, daß der Reiz des Miteinanderradelns – Wind in den Haaren, tiefstehende Sonne in den Augen, rasch wechselnde landschaftliche Bilder – ungemein erhöht wird, wenn zwischen den Fahrenden zarte Bindungen bestehen. Mit einem Tandem können Freunde oder Paare, gerade bei unterschiedlichem Leistungsvermögen, sich in solch glücklichen Momenten miteinander und aneinander erfreuen. Beziehungen wollen gepflegt sein – das Tandem darf gerne als ein Pflegemittel für diese zarten Bindungen betrachtet werden.

Das wohltuende Gefühl, gemeinsam eine Steigung, Wind und Wetter, manchen Weg bewältigt zu haben, wird insbesondere von denen geschätzt, die aufgrund eines Handicaps nicht allein in der Lage sind, die Welt aus dem Sattel zu erleben – sei es aufgrund einer Sehbehinderung oder Einschränkungen motorischer Fähigkeiten. So hat sich die Zahl der Teilnehmer an regelmäßigen Tandemausflügen des Berliner Blindensportvereins in den vergangenen fünf Jahren mehr als verdoppelt. Auch für Rekonvaleszenten kann das Tandemfahren, mit anfangs kleinen, später ausgedehnteren Fahrten, eine empfohlene Reha-Maßnahme sein. Auf dem Tandem sind wir in höherem Maß empfänglich für Landschaft, Sonne, Wind und Vogelgesang, wenn der Pilot in einfühlsamer und rücksichtsvoller Weise Fahrbahnunebenheiten ankündigt, die Trittgeschwindigkeit dem Partner gemäß wählt, empfindliche Ohren nicht mit unmusikalischen Schaltversuchen strapaziert, sich überhaupt gebart, vergleichbar dem, der seinen Partner beim Tanz gut führt.

Grundsätzlich ist das Tandemfahren eine rasante Art der mobilen Zweisamkeit – und in dieser Ausprägung aktueller denn je. Dazu haben neuartige Rahmen, die leicht und stabil sind, ebenso beigetragen wie eine perfekte Verarbeitung. Aus der Perspektive des Captains sind die größeren Lenkkräfte und die eingeschränkte Wendigkeit die einzigen deutlichen Unterschiede zum Fahren auf einem Einzelrad. Für den erwachsenen Stoker oder Copiloten ist es eine sehr viel größere Umstellung, zwar in die Pedale treten, aber nicht lenken oder bremsen zu können. Hier wird Vertrauen erworben, geschenkt, gewonnen oder, im schlimmsten Fall, vielleicht auch verspielt.

Heute wiegt ein Tandem im Preisbereich über 2.500 Mark selten mehr als 18 Kilogramm, und dies bei einer erheblich verbesserten Stabilität. Größere Rohrdurchmesser, optimierte Schweißverfahren und eine größer gewordene Fangemeinde machten diese Entwicklung möglich. Desweiteren profitiert das Tandem auch von Entwicklungen im Mountainbikesport. Vor allem, was das Angebot an Bremsen anbelangt, hat sich in den vergangenen Jahren sehr viel getan. Sei es die hydraulische von Magura oder Shimanos V-Brake, mit neu berechnetem Drehpunkt im Handbremshebel und darauf abgestimmte Bremsschenkellänge, die auch unter extremen Bedingungen ein gut dosierbares Abbremsen ermöglichen. Für Komfort sorgen heute Sättel mit Gelpolstern und Elastomerfederungen sowohl am Sattel als auch innerhalb der Sattelstütze. Für die große Tour ausgelegt sind spezielle Touringtandems, die mit belastbaren Front- und Hinterradgepäckträgern ausgestattet sind; schließlich bietet ein Tandem nicht mehr Platz für Packtaschen als ein herkömmliches Einzelrad.

Doch trotz der technisch überschaubaren Besonderheiten des Zweisitzers sehen sich nur wenige Fachgeschäfte in der Lage, interessierten Menschen eine der Investition angemessene Beratung oder gar die Möglichkeit einer ausgedehnten zu gewähren. Bedingung einer kompetenten Beratung ist die eigene langjährige Erfahrung des Verkäufers mit dem Produkt. Daran hapert es derzeit noch. In Berlin findet man unter einigen hundert Fahrradgeschäften nur eine Handvoll, die zum Tandem etwas vorweisen können. Bundesweit mögen es etwa 30 Geschäfte sein.

Für mich als Vater hat das Tandem noch eine besondere Funktion als gemeinsames Alltagsfahrzeug für einen Erwachsenen und ein Kind. Schon ab dreieinhalb Jahren wollte jedes meiner drei Kinder aus dem Kindersitz auf den Stokersattel überwechseln und fuhren selbst, stolz mittretend und nicht mehr passiv in den Kindersitz geschnallt. Ein an das hintere Sitzrohr geschraubtes Tretlagergehäuse brachte die Pedale in die erforderliche Höhe. Dadurch bot sich den Kleinen die gleiche Sitzposition wie auf einem Kinderrad. Der tägliche Weg zum Kindergarten und/oder Schule mitten in Berlin und unsere Ausflüge an Wochenenden wurden dank des Tandems freudvoller und entspannter. Verkehrserziehung findet „online“ in der jeweiligen Situation statt. Unser Gefährt schien sogar manchen Passanten das Alltagsgrau für einen Moment vergessen zu lassen. Stephan Pochert

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