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Wenn Plankton erzählt

■ Bremer Wissenschaftler sammeln im Grund der Weltmeere Erkenntnisse über die Erdgeschichte

„Wollen Sie mal ins Mikroskop gucken? Die mit dem Golfball am Hinterende ist Orbolina universa, ein Allerweltskerl.“ Professor Gerold Wefer, Geologe, Paläontologe und Organisator der Bremer Woche der Meeresforschung, schiebt eine Schale mit kleinen weißen Krümeln unter das Mikroskop. Die winzige Foraminifere, zu deutsch „Kammerling“, von der nur noch das weiße Gehäuse übriggeblieben ist, lag in einem 150 Millionen Jahre alten Sediment tief im Ozeanboden eingebettet. Ans Licht geholt wurde sie in einem Bohrkern, der im Bohrkernlager des internationalen Ocean Drilling Programmes im Schuppen 3 des Bremer Europahafens aufbewahrt wird.

Über 42 Kilometer Bohrkerne in 28.000 Einzelteilen lagern dort in riesigen Regalen übereinander. Dicht an dicht bei plus vier Grad, was der Temperatur am Meeresboden entspricht. Schon an Bord des Kernbohrschiffes Joides Resolution werden die jeweils neun Meter langen Bohrkerne in handliche 1,50 Meter lange Stücke zersägt. Und die werden wiederum zweigeteilt in eine Arbeits- und eine Archiv-Hälfte, nach Ort und Tiefe beschriftet, fotografiert, und dann in gekühlten Containern im Zehnerpack nach Bremen geschickt.

Im Kernbohrlager der Universität Bremen, einem von vieren auf der ganzen Welt, sind alle Bohrkerne des Atlantischen Ozeans, des Mittelmeeres und der Karibik archiviert. Hier können Wissenschaftler aus aller Welt, die sich mit Fragen zu Vulkanismus, Meeresspiegelschwankungen oder Evolution der Meeresorganismen beschäftigen, Kernproben bestellen.

Professor Wefer vom Bremer Institut für Geowissenschaften untersucht die Bohrkerne im Hinblick auf Klimaveränderungen in der Vergangenheit. Von den Kleintiersedimenten des Meeresbodens kann man direkt auf das Klima und die Wassertemperatur vergangener Zeiten rückschließen. Dabei ist die Zusammensetzung, mit der die kleinen Fossilien in über 1000 Arten im Sediment vorkommen, ein Anzeiger für warme Meeresströmungen, kaltes Wasser oder sogar Eiszeiten.

Für Tiefseebohrungen ist die 40 Meter lange „Victor Hensen“, die noch bis Montag abend im Rahmen der „Woche der Meeresforschung“ im Überseehafen besichtigt werden kann, nicht geeignet. „Aber ansonsten ist so ziemlich alles an Meeresforschung möglich“, auf dem kleineren der beiden Forschungsschiffe des Alfred Wegener Institutes in Bremerhaven, sagt Chief Jürgen Schimanski, der 1. Technische Offizier des Schiffes. Benannt wurde das 1975 gebaute Forschungsschiff nach dem Kieler Planktonforscher Christian Andreas Victor Hensen (1835-1925).

Eigentlich wurde das Schiff für die Erforschung der Nordsee und ihrer Flußmündungen gebaut, aber seit sechs Jahren ist es auch tropenfest. Für das brasilianisch-deutsche Forschungsprojekt „Joint Oceanographic Projects“ wurde das Schiff 1991 in brasilianischen Küstengewässern eingesetzt. Neun Monate dauerte 1994 der längste Einsatz im Rahmen des internationalen Forschungsprojektes „Joint Magellan Campaign“ im Gebiet der Magellan-Straße und vor Kap Hoorn.

10.000 Mark kostet das Schiff, das mit chemischen und mikrobiologischen Labors bestens ausgerüstet ist, pro Tag. An Deck liegen Geräte mit so abenteuerlichen Namen wie Planktonhai, ein vertikales Planktonnetz, Kastengreifer für die Sedimentproben und Dredgeeisen in verschiedenen Größen um die am Boden lebenden Tiere vom Meeresboden abzukratzen. Dr. Karsten Schaumann, der wissenschaftliche Fahrtleiter, der die Arbeiten an Bord koordiniert, ist Mikrobiologe am Alfred-Wegener-Institut. Sein Spezialgebiet sind die noch weitestgehend unbekannten Meerespilze, für die sich aber die chemische Industrie stark interessiert, denn sie produzieren Antibiotika, Enzyme und Fettsäuren.

Die nächsten Einsätze der „Victor Hensen“ stehen schon so gut wie fest. Dieses Jahr geht es in die Nordsee, um vor Norwegen Korallenriffe zu untersuchen. Diese Korallen sind eine spezielle, an kühle Gewässer angepaßte Art. Ende des Jahres stehen vier Wochen vor den Kanarischen Inseln an, und für nächstes Jahr sind drei Monate vor Westafrika im Gespräch. Sonja Schindler

Die „Victor Hensen“ kann heute von 10 bis 17 Uhr im Bremer Überseehafen besichtigt werden.

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