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Dampfender Mythos

■ Ein grünes Stahlroß macht Station im Hauptbahnhof: Die Königlich-Bayrische Lok S3/6 Von Sonja Schmitt

„Mit Verzögerungen durch Kohle aufladen oder Wasser tanken ist zu rechnen“, erklärt Roland Gaugele vom Eisenbahnmodell-Bauer Märklin. Auch gestern störte sich niemand an der mehrminütigen Verspätung, als die Dampflokomotive S 3/6 der Königlich-Bayrischen Staatseisenbahn um kurz nach halb fünf in den Hauptbahnhof einlief, um auf ihrem Weg von Göppingen über Rügen, Hamburg, Köln und Luxemburg und zurück nach Bayern Station zu machen. Heute startet die S3/6 um 10.23 Uhr auf Gleis 11 zur nächsten Etappe über Bremen nach Hannover. Für 125 Mark kann man in historischen Speisewagen dinieren und einen Hauch Vergangenheit und Dampfmaschinenduft schnuppern. 1908 wurde die Lok S 3/6 erstmals gebaut und war mit 1815 Pferdestärken und einer Spitzengeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern eine technische Höchstleistung – stark genug, auch den Orient-Express über den Balkan zu schleppen.

Kritiker einer übertriebenen Dampf-Nostalgie seien mit dem alten Lied vom Lokführer Jalava an eine revolutionäre Komponente alter Loks erinnert: Es besingt in kämpferischer Manier den Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin, der in der Lok 293 „als Heizer die Flammen schürt“, den deutschen und finnischen Behörden entkommt und in Rußland im Oktober 1917 die Revolution ausruft. Was die Stärke der einst bestorganisierten Arbeiterschaft der Welt – der deutschen – angeht, hat sich Lenin bezüglich weltrevolutionärer Pläne damals sehr verrechnet.

Die hatten die Freunde des bayrischen Eisenbahnmuseums in Nördlingen auch in den vergangenen Jahren wohl nicht im Sinn, als sie unbezahlte 14.000 Arbeitsstunden investierten, um das grüne Stahlroß nach 37 Jahren Stillstand wieder flott zu machen. Die Waggons, die S3/6 zieht, hat Märklin für die Rundfahrt in verschiedenen Städten entliehen. Sie verschwinden Ende Mai wieder in ihren „Heimat“-Museen – ein Schicksal, das viele dem Transrapid bereits vor seiner Realisierung wünschen.

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