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Amateure mit Tick

Liegeräder werden von unverdorbenen, meist männlichen Tretern mit „Freude am Fahren“ bewegt  ■ Von Gerd Michalek

Bergisch Gladbach (taz) – „Liegeräder leben länger“, sagen Insider. Wegen der unverwüstlichen Bauweise. Liegeradler selbst sind reinrassige Amateure, unverdorbene Treter sozusagen. Der Dachverband „Human Power Vehicle“ (HPV) in Deutschland zählt 735 Mitglieder, mindestens tausend Liegeräder gehen jedes Jahr über den Ladentisch. Die Szene ist noch klein und fein. Daran ändert auch nichts, daß derzeit die Niederländer schon Räder für 1.500 Mark anbieten, während in Deutschland der Standardpreis um die 2.500 bis 3.000 Mark beträgt.

Volkssport wird das tiefergelegte Individualistenrad sobald nicht. Ebenso weit ist die Sportart auch entfernt von den Auswüchsen des Hochleistungssports. Der lebt bekanntlich in seiner verruchten Form von der Arbeitsteilung. Um den Akteur kreisen dutzendweise Spezialisten für Sälbchen, für die Seele, die PR und den Steuerbescheid. In der Großfamilie Liegerad ist alles anders: Hier ist der Akteur noch Mensch, ein Multimensch.

Zum Beispiel Martin Staubach aus Nürnberg. Der 28jährige Maschinenbauingenieur mit dem verschmitzten Bubenlächeln hatte am vergangenen Wochenende bei den dritten Bergisch Gladbacher Liegeradtagen, einem der nationalen Highlights, mindestens drei Funktionen. Als Rennfahrer holte sich „Staubi“ auf seinem vorderradbetriebenen Rad beim Rundkursrennen den dritten Platz. Mit einem „guten 42er bis 43er Schnitt“ (km/h) auf 21 Kilometer. Ansonsten ist er Radkonstrukteur, hat acht Jahre lang in Nürnberg einen Veloladen betrieben und agiert zudem als Bildungsreferent beim „Liegerad-Symposion“. Sein Spezialthema: die Vor- und Nachteile des Vorderradantriebs. „Das Rad ist wendig, aber es widersetzt sich dem normalen Fahrgefühl. Bei einem Fahrgenie klappt es sofort, ansonsten dauert es gut zwei Wochen.“

Liegeradler schmücken sich nicht mit fremden Federn, sie erzählen nur Selbsterfahrenes. Und sie geben auch Niederlagen zu, wie „Staubi“, der einen „tierisch steilen“ Berg bei Nürnberg – so um die 25 Prozent – nicht mehr raufkam. Ein Herr mit spärlichem Haupthaar bekommt leuchtende Augen: „Wenn du gefrustet bist, kannst du oft das Flevo-Rad gar nicht fahren, aber wenn du es doch irgendwie schaffst, ist es herrlich entspannend, eine therapeutische Gratisbehandlung.“

Die Szene ist fest in Männerhand, ablesbar an den Quoten während der drei Gladbacher Renntage, zu denen rund 35 Liegeradbewegte aus allen Teilen Deutschlands gekommen waren. Bei den Rundkursrennen und dem 50-Meter-Sprint aus dem Stand waren es 90 Prozent Männer, beim Grillabend 95 Prozent und beim Symposion gar 100 Prozent. Da wurde gefachsimpelt ohne Ende über Fahrwerksgeometrie und Bewegungswinkel. „Das spricht die Frauen nicht so an. In den USA ist die Liegeradszene hochgeschwindigkeitsgeil. Hier in Deutschland teilt sich die Szene in Alltagsradler, Rennfahrer und Technikfreaks“, meint Gunnar Fehlau, Buchautor, Liegeradjournalist, Rennfahrer und Referent. Daß Bergisch Gladbach neben Nürnberg und Erlangen zu den Liegeradzentren Deutschlands zählt, hat für ihn nicht nur persönliche Gründe. Hier steht eine der großen Liegerad-Schmieden, dazu ein Liegerad- Laden mit mehr als 30 Modellen, da wohnt sein Bruder, der 1.000 km-Weltrekordler Axel Fehlau.

Gunnar ist ein eifriger PR-Arbeiter in Sachen Ultratief-Lieger. Das sind die renntüchtigen Mantas unter den Liegerädern, so tiefgelegt, daß man, je nach Rückenlehne, nicht mal auf Augenhöhe des Autofahrers ist, eine Minimalbedingung für die Sicherheit im Straßenverkehr. Das Tretlager des Ultras liegt oft 30 Zentimeter höher als der Sitz, man tritt etwas in den Himmel. Gunnar kennt die Sicherheitsrisiken, die den Ultratieflieger meist von der Normalstraße fernhalten. Sein Resümee: „Wer sich bei 25 Zentimeter Sitzhöhe noch richtig sicher fühlt, hat entweder einen geringen Überlebenstrieb oder ein großes Frustrationspotential.“ Weder Geld, Gesundheit noch Ruhm sind das Hauptargument für das Ultraliegerad und seine Anhänger, sondern – der ADAC könnte es nicht schöner sagen – „die Freude am Fahren“.

Die nächsten Liegeradtermine: Aachen (22./23. Juni 96), Kontaktadresse: M. Pohl, 0241-60 88 691

Leicester (GB): Europa-Meisterschaften (27./28. Juli 96)

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