: Wohnung als Gefängnis
■ Armut, Perspektivlosigkeit und nicht-funktionierende Nachbarschaft: Die Großsiedlungen in Süderelbe
Die Fußmatte ist ziemlich abgetreten, der Leiter des Ortsamtes Süderelbe bekommt in diesen Tagen viel Besuch. Nach dem Schock „über diesen tragischen Unfall“ am Bahnübergang in Sandbek, sagt Peter Sielaff, „stellen sich Fragen, wie das passieren konnte und auch das, was danach kam“. Immer wieder fallen die Wörter „Wohnghetto“, „anonyme Großsiedlung“ und „Bausünden der 70er Jahre“ auf der Suche nach den Ursachen für diese zerstörerische Trauer nach dem Tod von Sami und Kamil.
„Baulich-räumliche Merkmale von Wohnquartieren stellen keine eigenständigen Einflüsse auf Gewalt dar“, doziert der Soziologe Georg Schottmayer von der TU Harburg. Aber sie verschärfen Unzufriedenheit über Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, fehlende soziale Kontakte. „Die Leute hauen dann drauf. Auch eine Form, damit umzugehen“, sagt Jens Hardel von der Arbeitsgruppe für Stadtplanung und Kommunalbau (ASK).
50.000 Menschen leben im Raum Süderelbe. In nur zehn Jahren, prophezeit das Statistische Landesamt, sollen es mehr als 70.000 sein. „Es gibt akuten Wohnungsbedarf, und im Süden Hamburgs liegen die freien Flächen.“ Die Finger des Ortsamtsleiters wandern über die große Landkarte an der Bürowand. Auf der Grünfläche unter dem Schriftzug „Neugraben-Fischbek“ halten sie inne: „Deswegen muß hier gebaut werden.“ 10.000 weitere Menschen sollen nach dem Willen der Stadtentwicklungsbehörde (Steb) bis Anfang des nächsten Jahrtausends eine neue Heimat mitten auf der grünen Wiese finden. Die Frage ist nur, wie.
Knapp die Hälfte der BewohnerInnen aus Süderelbe haust in den tristen Silos der Großsiedlungen Neuwiedenthal, Sandbek und Kirchdorf-Süd. Die Schlafstädte wurden erdacht von Stadtplanern der 60er und 70er Jahre, die den Mangel an preisgünstigem Wohnraum ziemlich billig zu lösen glaubten: Parkplätze und ein paar Grünanlagen, die nicht bloß deshalb nicht genutzt werden, weil Ballspielen hier verboten ist.
„Neugraben-Fischbek wird anders.“ Der Sprecher der Steb, Bernd Meyer, glaubt seinem akkuraten Siedlungsmodell mit Plastikbäumchen und Holzhäuschen mehr als den Menschen vor Ort. Die wittern Wiederholungsgefahr: Zwar werde in der neuen Siedlung das absolute Mindestmaß an Infrastruktur – Kindergarten und Schulen – zeitgleich mit dem ersten Bauabschnitt erstellt. Auf Bürgerhaus und Jugendtreff aber werden die Menschen noch Jahre nach ihrem Einzug warten müssen: Neugraben-Fischbek soll die Baulücke zwischen Neuwiedenthal und Sandbek schließen und die „Problem-Stadtteile stabilisieren“.
Dort lungern Jugendliche auf der Straße herum. „10.000 industrielle Arbeitsplätze sind in den vergangenen zwei Jahren in Harburg einfach weggefallen“, weiß Gottfried Eich, Leiter der Saga-Projektgruppe Kirchdorf-Süd. Dafür kamen ein paar neue Sozialarbeiter.
Viele kommen ohne Sozialhilfe nicht mehr aus. Weil man sich nichts mehr leisten kann und keinen Ort mehr hat, wo man hingehen kann, wird die Wohnung zum Lebensmittelpunkt. Oder zum Gefängnis. „Es müßte viel mehr flexibel zu gestaltende Räume und Gebäude in Abstimmung mit den tatsächlichen Bedürfnissen der dort Lebenden geben.“ Eich will Mietergärten, selbstverwaltete Cafés und Jugendeinrichtungen.
Abriß, denken viele leise, wäre vielleicht auch eine Lösung. Aber was dann?
Wer sich mit seinem Stadtteil identifiziert, lehrt eine uralte stadtplanerische Weisheit, hat kein Interesse an seiner Zerstörung. Der Charme gewachsener Altbau-Viertel wie Eppendorf lasse sich nicht nachempfinden: „Trotzdem geht es darum, urbane Stadtteile zu schaffen.“ Abwechslung müsse endlich her, belebte Straßen mit Läden im Erdgeschoß, wo es was zu gucken gibt, vielleicht mehrere Restaurants statt einer langweiligen Pizzeria.
Hohe Wohndichte erzeugt nicht automatisch soziale Probleme: „Ottensen funktioniert doch auch“, heißt es. Die Wohnunzufriedenheit in den Stadtrandsiedlungen, auch darüber sind sich Stadtplaner und Soziologen einig, hängt nicht ausschließlich von monotoner Architektur ab. Sondern von dem Frust über Armut, Perspektivlosigkeit und nicht-funktionierende Nachbarschaft: „In den Hochhäusern treffen sich die Leute nur am Aufzug, wenn der gerade mal wieder nicht funktioniert“, sagt Gottfried Eich.
„Wir müssen die Menschen hier in die Planungen einbeziehen.“ Längst hat Ortsamtsleiter Peter Sielaff erkannt, woran es in Süderelbe am meisten mangelt. Er redet mit den Leuten. Das schätzen viele. Die Fußmatte ist Zeugin.
Neulich war der Vater von Sami da. Man beratschlagte über den Frieden im Stadtteil und kam zu keiner Lösung. Aber Peter Sielaff hat „ein paar Mark locker gemacht“: Neun Jugendliche nehmen an den Trauerfeierlichkeiten für ihre verstorbenen Freunde in Tunesien teil. Heike Haarhoff
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