: King Kong im Kaninchenfell
Im Londoner MOMI, dem „Museum of Moving Image“, wird die Geschichte des Kinofilms hautnah vermittelt. Dort kann man dem echten King Kong Auge in Auge gegenübertreten und im Nebenraum den Originalfilm ansehen ■ Von Martin Glauert
Die Eintrittskarte erhält man – wie sollte es anders sein – an einer Kinokasse. Durch einen Vorhang tritt man dann in einen dunklen Saal, offenbar zu spät – wie immer! –, die Vorstellung hat bereits begonnen. In den Zuschauerreihen vorne sitzen seltsame Zeitgenossen, Männer mit Zöpfen und Perücken, Frauen mit hohen Hüten, die blassen Gesichter teilweise verschleiert. Allmählich dämmert es uns – wir sind mitten im Jahre 1795 in Paris gelandet. Gar erschreckliche Szenen spielen sich auf der Bühne ab: ein Skelett umgreift eine holde Maid, Schädel tauchen auf, werden größer und verschwinden wieder. Den Höhepunkt des Grusels bildet die Projektion von menschlichen Porträts auf Rauch, der aus einem Sarg quillt – ersteht der Geist des Toten auf? Ein Schrei des Entsetzens geht durch die Zuschauer. Die freilich entpuppen sich beim näheren Hinsehen als Pappkameraden, deren Lebensäußerungen über die Lautsprecher eingespielt werden.
Das Auge kann betrogen werden
Das MOMI präsentiert die Entwicklung des Films nicht in langweiligen Lektionen oder in Vitrinen, sondern macht sie hautnah erlebbar. Der Einstieg jedenfalls ist gelungen, in dieser Pariser Grotte wird der Besucher unwillkürlich Zeuge einer der frühesten Vorstellungen mit bewegten Bildern. Das jedem Film zugrundeliegende Prinzip ist so genial wie einfach: Offensichtlich behält das Gehirn einen visuellen Eindruck einen Sekundenbruchteil länger, als das Auge ihn sieht. Diese Erkenntnis ist die Grundlage aller bewegten Bilder, vom Javanesischen Schattenspiel bis zum Kinofilm heutiger Tage. Das Auge kann betrogen werden, und davon kann sich der Besucher mit vielen einfachen Geräten selbst spielerisch überzeugen. Da steht eine runde Scheibe, die mit einer Handkurbel um sich selbst gedreht werden kann. Auf einer Seite ist ein Papagei aufgemalt, auf der anderen ein leerer Käfig. Dreht man nun die Scheibe mit einer Kurbel immer schneller, so wechseln sich die Bilder zunächst ab, von einer gewissen Geschwindigkeit an aber bleiben beide Bilder stehen, überlagern sich, und der arme Papagei sitzt nun im Käfig. Auf demselben Prinzip beruht auch der Kinofilm, der einzelne Fotos in schneller Folge zu einer flüssigen Bewegung verschwimmen läßt. Doch halt – vor unserem unverzichtbaren Abend im gemütlichen Kinosessel liegt noch ein ganz wesentlicher Schritt: die Erfindung der Fotografie.
Der Butler sah durchs Schüsselloch
Die ersten bewegten Fotobilder, keine eigentlichen Filme, funktionierten wie ein Daumenkino. Statt gemalte Bilder wurden nun Fotografien in rascher Folge umgeblättert, so daß der Eindruck der Bewegung entstand. In runden Blechtrommeln, nach Einwurf eines Geldstückes mit Kurbel zu bedienen, waren diese Bildergeschichten ein riesiger Erfolg auf Jahrmärkten und an den Piers der britischen Badeorte. Wie durch ein Schlüsselloch wurde man Zeuge so manch anzüglicher Episode, und bald hießen diese Blechapparate in aller Munde nur noch „Was unser Butler sah“, die Peep-Show unserer Urgroßeltern!
Krieg und Propaganda in der Traumfabrik
Der Unterstand ist dämmerig, man muß sich bücken, um den niedrigen Balken auszuweichen. Der Boden ist staubig, überall stehen Sandsäcke. Gedämpft hört man das Geräusch detonierender Granaten, das von draußen hereindringt. Draußen – das sind die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges. Wirft man einen Blick durch die Periskope und Scherenfernrohre hier im Unterstand, so erblickt man allerdings kein Schlachtfeld, sondern die Filme, die während des Weltkrieges gedreht wurden. Wenig Berichterstattung oder Dokumentation war darunter, das Terrain erwies sich als zu schwierig und das Feld als zu blutig, um zu filmen. Daher produzierte man hauptsächlich Propagandafilme im Studio.
Nach dem Krieg diktierte der Wunsch nach heiler Welt und harmloser Unterhaltung den Inhalt der Kinofilme. Liebesfilme dienten der Ablenkung von den schweren und wirren Zeiten – Hollywoods Stunde hatte geschlagen! Und ein ganz neues Phänomen stieg am Filmhimmel auf: der Star. Ein solcher war Rodolfo Valentino, Galan zahlloser Filme und Schwarm unserer Mütter. Als italienischer Einwanderer schlug er sich als Tellerwäscher durch, bis er 1917 zu einem Hollywood-Star aufstieg und als Liebhaber schlechthin in die Filmgeschichte einging.
SCHNITT!
Während in Hollywood die Frauen in den Kinosesseln reihenweise in Ohnmacht fallen, wenn Valentinos Glutaugen schmachtend auf sie blicken, rattert ein hölzerner Waggon durch die verschneite Steppe Sibiriens. Die Bolschewiki kämpfen um die Macht, und in dem bunt bemalten Güterwaggon befindet sich die Propagandaabteilung der Roten Armee. Jetzt steht genau dieser Waggon vor uns. Eine blonde Frau in dunkler Uniform mit harten Gesichtszügen und ebenso hartem Akzent steht auf dem Trittbrett und agitiert uns. Kinder dürfen wild die rote Fahne schwenken, und wir rufen schließlich im Chor: „Zak revoluzija! – Hoch die Revolution!“ Im Waggon dann sitzen wir auf harten Holzbänken und sehen Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“. Das Massaker auf der Treppe von Odessa (das nie stattfand) läuft vor uns ab, verzerrte und heroische Gesichter in Großaufnahme, dramatisch und monumental. Keine Worte sind aus ihren Mündern zu hören, und doch versteht sie jeder Zuschauer, vom Polarkreis bis nach Afrika.
Und plötzlich stehe ich ihm gegenüber. Kurze Schrecksekunde des Erkennens – das ist King Kong, in greifbarer Nähe vor mir! Der schreckverbreitende Sympathieträger steht auf dem Dach eines Wolkenkratzers hoch über New York, und von den Flugzeugen, die ihn umfliegen und beschießen, hat er soeben eins mit der Hand gefangen und wie eine Mücke zerquetscht. Jedoch: Dieses riesenhafte Monster geht mir nicht mal bis zum Knie. Ganze 18 Zoll mißt die Kreation aus Stahl, Gummi und Kaninchenfell. So macht er niemandem Angst, man möchte ihn am liebsten in die Hand nehmen und streicheln. Um die fatale Wirklichkeit wieder zurechtzurücken, kann man im museumseigenen Kino gleich im Nebenraum den originalen Film mit dem „echten“ King Kong der Erinnerung ansehen und sich wieder richtig fürchten.
Wie weit die Tricktechnik inzwischen vorangeschritten ist, zeigt sich im Fernsehstudio der BBC. Da darf man als Nachrichtensprecher von der unsichtbaren Textrolle die neuesten Meldungen ablesen und wird über mehrere Bildschirme live auf die Museumsflure übertragen. Kinder liegen bäuchlings auf einem Schaukelbrett, per Blue-box-Verfahren werden sie elektronisch in einen Film eingespielt und fliegen dann wie Superman durch den Himmel über London.
Verläßt man das Museum, steht man wieder mitten im Londoner Verkehr. Ein roter Doppeldeckerbus fährt vorbei, die Taxis hupen, die Häuser wirken wie Kulissen. Nach einer Stunde Kinowelt empfindet man im ersten Augenblick auch die Wirklichkeit wie einen ablaufenden Film. Sind wir darin Stars oder Statisten?
Information:
MOMI – Museum of the Moving Image, South Bank, Waterloo, London SE1 8XT, Tel.: 071-928 3535, U-Bahn-Station Waterloo oder Embankment. Öffnungszeiten: Di.–Sa. 10–20 Uhr, sonn- u. feiertags 10–18 Uhr, Mo. geschlossen. Eintrittspreise: ca. 10 DM für Erwachsene, 7,50 DM für Kinder, Studenten und Rentner; Familienticket 30 DM (2 Erwachsene und 4 Kinder). Zum Lesen empfohlen: Christopher Catling, „London“ (Viva-Guide), praktischer Reiseführer mit Übersicht über alle Museen, 288 Seiten, reich bebildert, RV-Verlag, Stuttgart.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen