: „Wichtiger als Kohl und Schmidt“
■ „Violetta“, der legendäre Ü-Wagen von WDR-Radiostar Carmen Thomas, ist jetzt auch offiziell Geschichte: Er wandert als Ausstellungsstück ins Museum
Der Chef des Hauses machte sie kurzerhand alle zu Zeitzeugen, so dehnbar kann Geschichte sein: Wolf Biermann, der kurz zuvor noch gebrummelt hatte, er wisse gar nicht, was er bei dieser Veranstaltung eigentlich könne und solle; Carmen Thomas, die endlich wieder einmal im Mittelpunkt stehen durfte; Heinz-Joachim Weber als stellvertretender Hörfunkdirektor des WDR schon qua Amt, und natürlich „Violetta“, derentwegen sie alle ins Bonner „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ gekommen waren. „Dieser Ü-Wagen erzählt mehr Geschichte als jedes andere Exponat“, begründete Museumsdirektor Hermann Schäfer feierlich, warum er das schon im August 1994 vom TÜV ausgemusterte lila WDR-Gefährt mit dem Schriftzug „Violetta“ als Geschenk des Senders angenommen habe. „Durch ihn ist das Radio vom passiven zum interaktiven Medium geworden.“
Tatsächlich hat Carmen Thomas, bevor sie 1994 aus Verärgerung über die WDR-Programmreform und den damit verbundenen neuen Sendeplatz das Mikrofon an ihren geschwätzigen Nachfolger Jan Seemann abgab, mit der rollenden Hörfunkbühne und ihrer seit dem 5. Dezember 1974 ausgestrahlten Sendung „Hallo Ü-Wagen“ Rundfunkgeschichte geschrieben. In der Nachfolge des ab 68 propagierten „öffentlichen Diskurses“ war kein Thema zu mittelmäßig, keine Meinung zu banal, als daß sie bei Carmen Thomas nicht doch Gehör gefunden hätte. Heerscharen von Hausfrauen und Frührentnern hängen seither an jedem Donnerstagvormittag in ganz Nordrhein-Westfalen vor den Geräten, um aus Mülheim über „Katzenfreunde und Katzenfeinde“ aufgeklärt zu werden, aus Alsdorf die Diskussion über die Frage „Gehört ein Kind ins Elternbett?“ zu verfolgen oder sich aus Bottrop über die „Mißhandlung alter Menschen“ zu informieren.
„Carmen Thomas ist an Rhein und Ruhr wichtiger als Helmut Kohl und Helmut Schmidt zusammen. Bei ihr habe ich den Westen gelernt, sie gibt Anschauungsunterricht in lebendiger Demokratie“, befand Ü-Wagen-Dauergast Wolf Biermann. „Es ist eine Ironie des Schicksals, daß diese Frau erst durch ihr Pisse-Buch über die Grenzen des Landes hinaus bekannt wird. Wenn sie nicht so jung wäre, müßte man sie an den Wagen nageln und im Museum mitausstellen.“
Oft nahmen die Ü-Wagen- Gesprächsrunden Form und Inhalt der heute täglich stattfindenden Krawall-Talk-Shows von Christen und Meiser, Int-Veen und Kiesbauer vorweg: In die Tiefe ging auch Carmen Thomas selten. Ein verbindliches Ergebnis ist auch gar nicht gewünscht. „Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, daß das gar nicht geht“, erläutert die heutige Leiterin der WDR-Programmgruppe „Forum für Mitmachsendungen“ das bis heute durchgehaltene Rezept, „daß ich Meinungen auch dann anhören muß, wenn sie mir persönlich überhaupt nicht gefallen“. Die 50jährige Journalistin mit volksnah-demonstrativ zur Schau getragener Fremdwörter-Phobie rief den Bonner Museumschef höchstpersönlich an, um ihm die „Violetta“ für das Haus der Geschichte anzubieten. Der WDR zog mit und feierte das Ereignis mit Live-Musik und Podiumsdiskussion.
In Bonn soll der violette Ü-Wagen allerdings nicht in die ständige Sammlung integriert werden, so hoch schätzen die Lordsiegelbewahrer der bundesdeutschen Geschichte seine Bedeutung denn doch nicht ein. Die mobile Aktionsbühne kommt bei Diskussionsveranstaltungen zum Einsatz. Zur feierlichen Übergabe war auch Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth erschienen, um noch einmal auf die ehedem staatstragende Funktion des Radiofossils hinzuweisen, das die Eitelkeit seiner Erfinderin vor dem Schrottplatz bewahrt hat: „Öffentliche Rede kann noch etwas bewirken.“ In der kommenden Woche stellt das Thema „Unsinnige Kinderkleidung“ diese These in Düsseldorf auf eine harte Probe. Stefan Koldehoff
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