: Rien ne va plus
Klima-Kollaps im Casino: Nach dem Streik der Croupiers ist die Atmosphäre in der Spielbank Wiesbaden vergiftet – nun soll ein Psychologe helfen ■ Aus Wiesbaden Thorsten Schmitz
Spielbanken sind seit jeher Orte der Geselligkeit, Heiterkeit und Lebensfreude. (Werbeprospekt der Spielbank Wiesbaden)
Am schlimmsten ist die Angst vor der Nacht. Die Gewißheit, daß die bösen Gedanken kommen. Und bleiben. Wenn Bernd Rüttger* morgens um drei seine Wohnung betritt, und der Rest von Wiesbaden friedlich unter Daunen liegt, öffnet er zwei Büchsen Bier. Um „runterzukommen“, das Klacken der Jetons „wegzuspülen“, die Kraft der Kontrollblicke seiner Kollegen zu „minimieren“.
Rüttger fühlt sich mehr beobachtet denn je. Ein Croupier darf keinen Fehler machen. Rüttger, so sieht er sich selbst, ist ein „Opfer des Spiels“. Der Mann mit dem strengen Fassonschnitt und den zwanzig weißen Hemden fürchtet den Moment, in dem er die Bettdecke über den Kopf zieht. Eine Stunde „mindestens“ wälzt er sich hin und her – bis zur Kapitulation. Dann geht er ins Badezimmer, eine Schlaftablette holen.
Croupier wollte er nie werden. Als „Bub“ die mondäne Luft schnuppern und das Studium finanzieren, das ja. Aber die Versuchung, im Sitzen gutes Geld zu verdienen, war zu groß. Bernd Rüttger, 43, blieb. Seit 20 Jahren sortiert, stapelt, sammelt, schichtet er Jetons. Geld also, viel Geld, das der Spielbank gehört oder dem Spieler. Ihm nie. Schulter an Schulter sitzt Rüttger neben Menschen, die es sich leisten, mal eben 100.000 Mark zu gewinnen – oder zu verlieren. Den Reichtum ihrer Klientel spielen die Croupiers nach: Dupont-Feuerzeuge für 1.000 Mark, blaugetönte Brillen, wie sie die Zuhälter zum Porscherasen brauchen, und luftige Lederjacken.
Für den Logenplatz tête-à-tête mit der Hautevolee werden Rüttger und die Kollegen, Handlanger der Glücksgöttin, mit Nichtachtung bestraft. Qua Profession ist ein Croupier Luft: Die Spieler gucken ihn nicht an, und er darf die Spieler nicht angucken. Reden darf ein Croupier in Wiesbaden schon gar nicht, erst recht nicht mit den Kollegen. An diese Dienstvorschrift haben sich die Croupiers nicht immer gehalten. Ein kurzer Wortwechsel, während die weiße Kugel hin und her hüpft, das war stets drin. Jetzt, nach dem Streik, kommt sich Rüttger vor wie ein „Totengräber“. Denn an seinen Tisch hat der Technische Leiter der Spielbank Croupiers plaziert, die nicht gestreikt hatten. „Wir gucken uns nicht an, sagen nur das Allernötigste.“ Krieg ohne Worte: Rüttger glaubt, die „Streikbrecher seien darauf erpicht, daß er einen Fehler macht, den sie „nach oben petzten. Davon träumt er.
Jeden Abend auf dem Nachhauseweg schwört sich Rüttger zu kündigen. Und jeden Abend rät ihm der Verstand davon ab. Ein Croupier kann bei einer anderen Spielbank anheuern – aber nur zum Anfängerlohn von 1.900 Mark netto. „Ich bin“, sagt Rüttger und hält die Hände wie gefesselt, „der Spielbank ausgeliefert.“
„Der Situation“ ausgeliefert fühlt sich Joachim Arnold* ebenso. Haß sogar spürt er. Der Dienstplan diktiert ihm einen Kollegen, der für ihn keiner mehr ist: Auf einem rückenschonenden Bürostuhl ihm vis-á-vis sitzt Bernd Rüttger, ausgerechnet. Als Arnold zum Arbeiten fuhr, während seine Croupier-Kollegen bei Hagel und Regen auf dem Kurhausparkplatz für mehr Geld froren und Streicheleinheiten von der Administration forderten, absolvierte er einen Spießrutenlauf, bei dem Rüttger mitmischte. Die Spielbankgeschäftsführung hatte den Arbeitswilligen Wachschutzbeamte zur Verfügung gestellt, die sie zum Casino-Entree eskortierten. Die Spalier stehenden Streikenden spuckten auf den Boden, riefen „Ihr Drecksäue“. Dabei, erinnert sich der altgediente Arnold, habe Rüttger ihn verteufelt: „Hoffentlich kriegst du einen Herzinfarkt!“
Arnold sitzt nun mit jemandem am Tisch, der ihm den Tod gewünscht hat. Nicht wirklich, aber „das ging zu weit“. Der Haß auf den Kollegen, den er nur noch Mitarbeiter nennt, wirkt gefährlich auf Arnolds Personalakte. Vorletzte Woche beschwerte sich ein Gast über sein mürrisches Gesicht, was einen Eintrag in den Dienstbericht zur Folge hatte. Und der Haß stört Arnolds Konzentrationsvermögen. Dabei ist die Arbeit anstrengend genug: Alle Poren eines Croupiers stehen auf Empfang, wobei er so tun muß, als sei dies die einfachste Arbeit der Welt. Die unbeteiligte Miene ist Pflicht, ohne sie darf er nicht an den Tisch. Dort muß er die Gewinne im Kopf ausrechnen – ab halb zehn bei gedämpfterem Licht, weil das eleganter aussieht. Er muß bei Beschwerden Spielsituationen rekonstruieren können, sich merken, welcher Gast wo was gesetzt hat und stets auf der Hut sein vor Falschspielern. Und nun auch noch Rüttger! Panik erfaßt Joachim Arnold, er könnte einen Fehler machen: „Haß macht blind.“
Wenn die beiden miteinander redeten, würde Rüttger erfahren, was Arnold nachts plagt: „Ich wache mit der Spielbank auf und schlafe ein mit Wut und Frust.“ Vor dem Streik spielten Arnold und Rüttger noch Bowling. Jetzt halten sie sich nicht mehr die Tür auf, wenn sie den Saal betreten.
Klima-Kollaps im Casino: Die Klofrau und die Garderobiere lästern laut über „Füßeküsser“ innerhalb der Spielbankcrew, während sie Jacketts ausleihen und den Krawattenknoten erklären. Wenn sich zwei Streiker in der Toilette treffen, öffnen sie alle Klotüren – ob auch ja keiner lauscht beim entlastenden Plausch. In der Kantine wird nur noch geflüstert, früher wurde gelacht, gezockt, getrunken. Wenn ein Streiker dabei ertappt wird, wie er mit einem Streikbrecher redet, wirft ihm das die Arbeitskampffraktion vor. Kantinenfrauen, die aus Angst um ihren Job während des Streiks die Streikbrecher mit Frikadellen aus der Mikrowelle versorgten, bekommen von den Streikern kein Trinkgeld mehr. Spielbankchef Klaus Gülker berichtet von Morddrohungen und davon, daß Autoreifen zerstochen worden seien. Woraufhin die Bild- Zeitung „Streik brutal“ titelte. Der Technische Leiter, Gerhard Schmulder, ist dem Verdacht ausgesetzt, Mitglied von Scientology zu sein. Schmulders militärischer Führungsstil („Ich kann ja nicht everybody's darling sein“) degradiert die Mitarbeiter zu Angsthasen: Anonyme Spielbankkontrolleure patrouillieren auffällig unauffällig zwischen den Roulettetischen, in einem schwarzen Buch werden Verfehlungen eingetragen, wobei vier Verfehlungen eine Abmahnung ergeben. Wer es wagt, einen harmlosen Leserbrief im Wiesbadener Kurier zu veröffentlichen, der erhält postwendend die Kündigung. Aus Furcht vor Repression treffen einige Croupiers Journalisten nur noch irgendwo im Grünen: „Ich will mit Ihnen nicht gesehen werden“.
Die 83 Jahre alte und mit Tiffany-Ringen kostbar geschmückte Dame ist verzweifelt. Zweimal hat sie 700 Mark auf die 36 gesetzt, und es kam die 5, dann die 8. „Oh, Gott“, seufzt sie unschicklich laut ins Nachmittagspublikum – und setzt ein letztes Mal 400 Mark auf das Alter ihres Lieblingsenkels. Croupier Jan Hoffmann* neben ihr wispert „Contenance, Madame“. Die Kugel rollt, rien ne va plus, und fällt – auf die 36. Der Croupier freut sich: „Der Vater hat sie gehört“ – und erntet einen bösen Blick vom Saalchef.
Später, in der Kantine, erzählt er einem Kollegen vom Rüffel, den er für seine Bemerkung hat einstecken müssen. „Sogar an Silvester, wenn der Roulettekessel um Mitternacht angehalten wird, dürfen wir nicht lächeln“, sagt Hoffmann und leert die fünfte Tasse Kaffee. Der exotische Job hat ihn mal ganz erfüllt, vor allem die Neugier gestillt nach der seltsamen Welt: Zu beobachten, wie am Nachmittag reiche Senioren ihr Vermögen verspielen, weil sie sonst nichts mehr reizt, wie die Broker aus Frankfurt am frühen Abend auf dem Weg in ihre Taunusvororte mit der Sekretärin Zwischenstopp einlegen, wie ab 20 Uhr Touristen umherschleichen auf der Suche nach James Bond – und statt dessen die Frankfurter Halbwelt aus dem Bahnhofsmilieu treffen. Davon „kriegen wir nichts mehr mit“, sagt Jan Hoffmann und eilt hinunter in den Spielsaal, „nur noch dasitzen und die Spielbankkonzessionäre reicher machen“. Die Croupiers kommen sich vor wie im Kindergarten.
Die Kindergärtnerin ist Gerhard Schmulder, der für den Spielbetrieb verantwortliche Technische Leiter. „Menschenmaterial ist formbar“, soll er in den Streikwirren gesagt haben. Ob er das tatsächlich gesagt hat, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Der Satz hat sich verselbständigt, sitzt fest in den Köpfen der Croupiers, die wie brave Schüler ihre Hände auf den Roulettetisch legen, wenn die Spieler setzen. Auch Dienst nach Anweisung: So signalisieren sie, daß sie keine Jetons einstecken. Ohnehin könnten sie das nicht: Die Taschen an ihren Jacken und Hosen sind zugenäht.
„Die Welt ist kaputt“, sagt der abgebrochene Philosophiestudent Hoffmann anderntags. Sein Blick schweift vom Aussichtscafé auf Wiesbaden, wo Herren sich Biogesichtsmasken für 500 Mark verpassen lassen können und Damen Frischzellenkuren. Kaputt sind sie alle, findet der konziliante Croupier, die Spieler, die Casinocrew, die Welt überhaupt. Er ja sowieso. Auf Beziehungen kann er sich nicht mehr einlassen, er trinkt, der Rücken tut weh vom Sitzen, der Magen streikt. Wenn er noch mal auf die Welt käme, dann „nie als Croupier“.
Über dem Spielsaal im ersten Stock thront der Chef, Klaus Gülker, gelernter Volkswirt und Zahlenbesessener. Jeden Morgen errechnet er Gewinne und Verluste – der tägliche Rausch. Vom Spielsaal trennt ihn mehr als die zwei Treppen: Gülker, der perfekte Prokurist und erfolglose Lottospieler, gibt zu: „Ich habe nur einen beschränkten Blick ins Personal.“ Gülker hat die Orientierung verloren und nie besessen. So bat er einen Psychologen ins Haus, das wie ein Hochsicherheitstrakt vom wahren Leben abgeschottet ist. Bernd Eifländers Aufgabe: kitten. Ab nachmittags streunt Eifländer durch die Räume. Im Anzug, so läuft er nie rum. Er hört zu, redet, ist bei Dienstgesprächen dabei, macht sich Notizen. Wobei ihm gewahr ist: „Mein Job ist ein Schleudersitz, ich werde beide Seiten frustrieren.“
Eifländer saß noch nie im Leben an einem Roulettetisch – schon lästern die Streiker: Der hat keine Ahnung. Schmulder versucht er beizubringen, daß mit mehr Freundlichkeit das Klima günstiger wird – schon hat Eifländer Partei ergriffen für die Streiker. Der Psychologe, der demnächst mal einen Abend in der Spielbank Bad Homburg verbringen will: „Die spielen ein Spiel mit mir.“
Letzte Nacht kam ihm eine „verrückte“ Lösung in den Sinn, eine kafkaeske Therapie: „Ich werde den Croupiers einfach verbieten, miteinander zu reden.“ Ein Verbot, ist Eifländer überzeugt, wurde bis jetzt immer umgangen.
Die Namen der Croupiers wurden von der Red. geändert
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