piwik no script img

Ich sitze mit dem Kopf

Der Stuhl als soziale Plastik, industriegefertigt: Das Dortmunder Museum am Ostwall zeigt eine umfangreiche Retrospektive des niederländischen Möbeldesigners und Architekten Gerrit Rietveld (1888–1964)  ■ Von Christoph Danelzik-Brüggemann

Seit einigen Jahren wird die Diskussion über die gute Form des Sitzens von ergonomischen Argumenten bestimmt. Von schrillen Fun-art-Produkten abgesehen, wie die obstförmigen Sessel von Masanori Umeda, sind die markantesten Entwicklungen der Knie-Sitz- Stuhl und der Sitzball. Wer gut und zugleich schön sitzen möchte, ist noch heute bestens mit Möbeln bedient, die vor über 60 Jahren entworfen wurden. Kaum eine Arztpraxis, in deren Warteraum kein Marcel-Breuer-Stuhl steht. Ihm ist nicht anzusehen, daß er ebenso komfortabel wie elegant ist.

Ähnlich verhält es sich mit dem berühmten rot-blauen Stuhl von Gerrit Rietveld. 1918 kam der Möbelschreiner auf die Idee, aus einem großen Brett einen Stuhl zu fertigen. Er zerschnitt das Brett in einige Leisten und zwei Platten, die als Sitzfläche und Rückenlehne dienten. Der Stuhl verursacht beim Anblick Rückenschmerzen, tatsächlich aber ist er sehr bequem, weil der Körper in eine leichte, entspannte Lage gerät. Seit 1971 ist der Stuhl in gehobenen Einrichtungshäusern erhältlich. Zur Zeit wird er mit 300 anderen Entwürfen und Objekten Rietvelds im Dortmunder Museum am Ostwall gezeigt.

Rietveld selbst schien den Stuhl eher als Kunstwerk anzusehen, als er ihn 1919 in der Zeitschrift De Stijl abbilden ließ. Er erklärte, er habe den Stuhl „mit der Absicht gebaut, zu zeigen, daß man mit einfachen, maschinengearbeiteten Teilen etwas Schönes machen konnte, eine Raumkreation“, mit anderen Worten: eine Skulptur. Erst 1923 erhielt der Stuhl seine charakteristische Bemalung in Primärfarben, die an die Gemälde Piet Mondrians erinnert.

Rietveld entwickelte sich in kurzer Zeit vom ambitionierten Handwerker in der niederländischen Provinz zum Akteur der europäischen Avantgarde. Seine Ideen wurden auch im Bauhaus aufgegriffen. Gemeinsam waren De Stijl, dem Bauhaus und dem russischen Konstruktivismus die gattungssprengende Ästhetik. Bildende Kunst, Design und Architektur gehörten zusammen.

So konnte Rietveld 1924 seine skulpturalen Vorstellungen architektonisch umsetzen. Mit dem Rietveld-Schröder-Haus entwarf er wiederum ein beispielgebendes Objekt. Das zweistöckige Gebäude inmitten einer behäbigen Backsteinsiedlung seiner Heimatstadt Utrecht wirkt noch heute revolutionär – als Prototyp einer Auffassung von Architektur und Wohnen, die den Wohnungsbau der sechziger Jahre stark bestimmte, sich aber für die großflächige Umsetzung als zu teuer erwies. Vielleicht kommt es in den nächsten Jahrzehnten zu einem Revival.

Rietveld sorgte nicht nur für eine De-Stijl-typische Außenhaut des Baus. Im Obergeschoß sind alle Wände flexibel. Wer das Haus bewohnt, soll diese Räume seinen Vorstellungen entsprechend gestalten. Das eigens entworfene Mobiliar war leicht zerlegbar und transportabel – Rietveld begriff Wohnen als einen Bewußtseinsprozeß. Leider ist im Ostwall-Museum das Rietveld-Schröder-Haus nur als Modell zu sehen. Eine bessere Vorstellung von seiner architektonischen Auffassung erlaubt daher das komplett erhaltene und ausgestellte „Schlafzimmer Harrenstein“ (Amsterdam 1926).

Gerrit Rietveld entwarf eine unübersehbare Menge origineller Möbel und Häuser. Seine Arbeit zeichnet sich aus durch ein ausgeprägtes Bewußtsein von der praktischen wie von der sozialen Funktion der Dinge. Entsprechend bietet die vom Centraal Museum Utrecht zusammengestellte Ausstellung eine reiche Auswahl seiner Studien und Entwürfe. In den Räumen des Ostwall-Museums, dessen Architektur den passenden Rahmen liefert, wirkt die Zusammenstellung allerdings etwas gedrängt, das Ausstellungsdesign steht zu sehr im Vordergrund.

Dennoch läßt die Auswahl der in einer Folge von thematisch und chronologisch angelegten Räumen gezeigten Möbel, Maquetten und Entwürfe keinen Wunsch offen. Nicht nur Rietvelds Hauptwerke, sondern auch unbekannte Arbeitsfelder (Do-it-yourself- und Kindermöbel) lassen sich gründlich und sinnlich studieren. Der englischsprachige Katalog ist ein vollständiges Werkverzeichnis, den ein unkonventioneller Ausstellungsführer ergänzt. Mit der im Rahmen der deutsch-niederländischen Kulturtage gezeigten Werkschau in Dortmund kehrt Rietveld an den Ort zurück, an dem 1964 die letzte zu seinen Lebzeiten eröffnete Ausstellung über sein Werk und De Stijl stattfand.

De Stijl hatte eine starke soziale Orientierung, die auch Rietvelds Arbeit durchzieht. Ihm kam es auf einfache Gestaltung an. Ein Möbel sollte leicht produzierbar und deshalb billig sein. Großen Raum beanspruchen in Dortmund Stühle. Die meisten waren zur industriellen Fertigung geeignet. 1943/44 modifizierte er Möbelmodelle für eine Heimwerkerbroschüre. Aus einem Werkstück gebogen ist der in etlichen Varianten ausgeführte „Zig-Zag-Stuhl“. Nicht jedes dieser Objekte ist benutzbar, ein Zick-Zack-Kinderstuhl etwa erinnert an die L'art-pour-l'art-Schöpfungen von Memphis.

Auch im sozialen Wohnungsbau engagierte sich Rietveld. Im europäischen Trend lagen seine Konzepte der modularen Bauweise. Gefordert waren in den Niederlanden, anders als in Deutschland und Österreich, keine Wohnblöcke, sondern Reihenhaussiedlungen. Rietveld entwickelte 1928 den Prototyp des Fertighauses (Chauffeurswohnung in Utrecht). Für sein industriell produzierbares „Kernhaus“, das die elementaren Räume und Installationen enthielt, fand er keine Interessenten.

Während der deutschen Besetzung der Niederlande konnte Rietveld kaum arbeiten und schloß sich der Widerstandsbewegung an. Nach der Befreiung des Landes beteiligte er sich sofort an der kulturellen Reorganisation. Von 1944 bis 1955 lehrte er an der Amsterdamer Architektur-Akademie und saß in zahlreichen Komitees. Mit seinem Entwurf einer Kleinstadt auf dem Nord-Ost-Polder (1948) konnte er sich aber nicht durchsetzen. Zu dieser Zeit galt Rietveld bereits als „großer Anreger“, der allmählich die Praxis der jüngeren Generation überlassen sollte.

Unverdrossen gestaltete Rietveld jedoch Villen und Möbel. Als mit großen Ausstellungen in den Niederlanden, auf der Biennale von Venedig und den USA 1951/52 De Stijl gefeiert wurde, arbeitete er mit daran, die Künstlergruppe zur Legende zu verklären. Vom De-Stijl-Bonus profitierte er mittels repräsentativer Aufträge, wozu der niederländische Biennale-Pavillon ebenso zählte wie das Piedestal für das Foucaultsche Pendel im UN-Gebäude in New York. Rietveld baute Kirchen, Fabriken, Schulen und Kulturhäuser. Die Realisierung seines letzten Großauftrags erlebte Rietveld nicht mehr: Das Amsterdamer Van-Gogh-Museum wurde erst 1973, neun Jahre nach seinem Tod, eröffnet.

Bis 21. Juli 1996, Museum am Ostwall, Dortmund

Katalog (englisch): 45 DM

Info: http://www.dortmund.de/ rietveld.htm

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen