: Unser Gebiß – eine Sondermülldeponie
In ihren Praxen müssen ZahnärztInnen Quecksilber seit Jahren als Schwermetall entsorgen. Nur in den Zähnen soll es nicht giftig sein. Was ist tatsächlich dran am Amalgam, das noch nicht mal mehr durch den Abguß wandern darf? ■ Von Petra Welzel
Als im November 1989 alle im deutschen Wiedervereinigungsfieber taumelten, kippte Susanne W. aus den Latschen. Nach 30minütiger Bewußtlosigkeit kam sie wieder zu sich, in der Aufnahmestation eines Berliner Krankenhauses. An viel konnte sie sich nicht mehr erinnern, nur daran, daß sie sehr müde gewesen war und schreckliche Kopfschmerzen gelitten hatte. In den Einlieferungspapieren hieß es, sie hätte geschrien und wäre dann zusammengebrochen. Eine Neurologin stellte in den folgenden 14 Tagen die Diagnosen Epilepsie und Gehirntumor. Was aber tatsächlich nachgewiesen wurde, war eine rechtsseitige Störung der Gehirnströme.
Strahlende Plomben
Amalgam war zu dem damaligen Zeitpunkt nicht in die Diskussion geraten. Und Susanne W. hatte auch keinen Gedanken daran verschwendet, den Fallout mit ihren Amalgamfüllungen in Zusammenhang zu bringen. Durch Elektroakupunktur stellte allerdings ein Heilpraktiker extrem hohe Spannungen im Umfeld ihrer Zahnplomben fest. Nach der Entfernung aller Amalgamfüllungen verschwanden sie sofort und schließlich auch die rechtsseitigen Störungen der Hirnströme.
Wissenschaftlich nachweisbar ist ein Zusammenhang zwischen den strahlenden Plomben und dem physischen Zusammenbruch nicht mehr. Weder wurde bei Susanne W. vor der Entfernung des Amalgams durch einen Speicheltest die Belastung mit Quecksilber gemessen, noch wurde ihr Urin und Blut daraufhin untersucht. Und selbst wenn diese Untersuchungen erfolgt wären, hätten die SchulmedizinerInnen die Diagnose „Quecksilbervergiftung“ kaum akzeptiert. Der im letzten Monat erneut entbrannte Streit ums Amalgam zeigt deutlich, mit welcher Vehemenz die klassischen ZahnärztInnen ein seit knapp zweihundert Jahren verwendetes schwermetallhaltiges Füllmaterial verteidigen. Heute trifft sich in Berlin eine Fachgruppe verschiedener Experten, um unter Ausschluß der Öffentlichkeit die Tübinger Speichelstudie zu beurteilen.
„Die Zahnheilkunde sollte auf die Anwendungen von Amalgamen als Füllmittel ganz oder doch überall dort verzichten, wo es nur irgend möglich ist. Es unterliegt keinem Zweifel, daß viele Beschwerden, Mattigkeit, Mißmut, Gereiztheit, Kopfschmerzen, Schwindel, Gedächtnisschwäche, Mundentzündungen, Durchfälle, Appetitlosigkeit, chronische Schnupfen und Katarrhe manchmal von dem Quecksilber verursacht sind, das dem Körper aus Amalgamfüllungen zwar in kleiner Menge, aber dauernd zugeführt wird“, schrieb bereits 1926 Prof. Alfred Stock, damals Chemiker am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut. Aber erstmals 1979 konnte eine amerikanische Expertengruppe beweisen, daß aus Amalgamfüllungen Quecksilberdämpfe frei werden. Daß diese Dämpfe vom Menschen zu 80 Prozent aufgenommen werden, ungehindert die Blut-Hirn-Schranke passieren und sich dort einlagern bei einer Halbwertszeit von 18 bis 27 Jahren, bestreiten heute auch die SchulmedizinerInnen nicht mehr. „Wenn metallisches Quecksilber verdampfen kann und inhaliert wird, kann das zu schweren Vergiftungen führen“, bestätigt Prof. Dr. Karl Ernst von Mühlendahl, leitender Arzt des Kinderhospitals Osnabrück. Er stieß in verschiedenen Studien auf die krankheitsauslösenden Wirkungen des Amalgams. Dennoch steht auch er auf dem Standpunkt, daß mit der Aufnahme des Quecksilbers im Körper nicht zwingend Symptome einer Vergiftung einhergehen müssen.
Die Wahrheit liegt im Urin
In ihren aktuellen Zahnärztlichen Mitteilungen wehrt sich die Bundeszahnärztekammer deshalb auch entschieden gegen den Tübinger Test vom Mai, bei dem in 43 Prozent von 18.000 Speichelproben ein über dem Grenzwert der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegender Quecksilbergehalt gemessen wurde. Aussagen über eine Gefährdung durch Quecksilber seien mittels Speicheltests nicht möglich, weil die gemessene Menge keine Angaben über die Aufnahme von Quecksilber im Körper zulasse. „Lediglich Untersuchungen des Urins und gegebenenfalls des Blutes nach standardisierten, das heißt jederzeit reproduzierbaren Methoden“ ließen Diagnosen zu.
Urin- und Bluttests gehören längst auch zum Repertoire der AlternativmedizinerInnen. Ihre Untersuchungen zeigen aber: Quecksilber wird erstens mechanisch durch Kauen und Zähneputzen freigesetzt, zweitens chemisch durch heiße und saure Speisen, drittens elektrochemisch durch die Spannung weiterleitende Fähigkeit des Mundspeichels und viertens durch Quecksilberdämpfe, die beim Bohren oder Polieren entstehen. Je mehr Füllungen jemand besitzt, desto größer ist der Anteil nachweisbaren Quecksilbers. Andere Studien ergaben, daß die Anzahl der Amalgamfüllungen einer Schwangeren mit der Quecksilberbelastung in Niere, Leber und Hirn ihres Fötus korrespondiert. Und bekannt ist auch, daß ZahnärztInnen und ihr Personal durch ihre Arbeit wesentlich höhere Quecksilberwerte und Belastungen derselben Organe aufweisen als andere Menschen. Gestritten wird allerdings nach wie vor über die Wirkung des Quecksilbers.
Die Hardliner unter den SchulmedizinerInnen halten ein Auswechseln der Amalgamplomben nur dann für notwendig, wenn eine massive Quecksilberallergie oder Nierenunterfunktion vorliegt. Von Mühlendahl sieht das etwas differenzierter: „Etwa die Hälfte unserer Quecksilberaufnahme stammt aus den Amalgamplomben. Die andere Hälfte stammt aus der Nahrung, insbesondere Fischprodukten. Nach allen medizinischen Kenntnissen liegen die Belastungen durch diese Quellen aber noch deutlich unterhalb des Bereichs, in dem Schäden auftreten. Allerdings den letzten Beweis dafür zu führen, daß etwas nicht schadet, ist außerordentlich schwierig und in vielen Fällen unmöglich.“
Die AmalgamgegnerInnen glauben an die Meßbarkeit der schädigenden Wirkung des Quecksilbers. „Man kann die Wirkung mit alternativen Meßmethoden nachweisen wie der Elektroakupunktur. Nur die werden von den Schulmedizinern nicht anerkannt“, sagt ein junger Berliner Zahnarzt, der namentlich nicht genannt werden möchte. Der menschliche Körper sei ein komplexes Gesamtsystem, und die Methode der bioenergetischen Medizin gehe deshalb von Energieleitbahnen im menschlichen Körper aus, die lebenswichtige elektromagnetische Signale im Organismus über Eiweißketten weiterleiten. Quecksilber, organisch oder anorganisch, blockiere diese Leitungen.
„Die packen den Leuten ein Zeug in die Fresse, das sie nach dem Abfallentsorgungsgesetz als Sondermüll noch nicht mal mehr in den Abguß ihrer Praxis kippen dürfen“, erregt sich derselbe junge Zahnarzt. Während seines Studiums wurden PatientInnen im Berliner Zahnklinikum Nord sogar ohne ihr Wissen einfach Amalgamfüllungen unter Goldkronen gelegt. Er empört sich darüber. „Das Quecksilber, Zink und die anderen Stoffe werden doch nicht nur über die Mundschleimhäute absorbiert. Wenn man so eine Plombe rausholt, hat das Zahnbein darunter ein regelrechtes Tattoo. Das ist komplett schwarz, weil die Stoffe darüber in den Körper wandern. Aber davon redet nie jemand.“ Die Verwendung sei nicht einmal eine Frage der Kosten – eine Belastung von 115 Milliarden Mark würde in Deutschland entstehen, müßten alle Amalgamplomben der Bundesbürger entfernt werden –, sondern einfach Bequemlichkeit. Amalgam ist nach wie vor das am einfachsten und besten zu verarbeitende Material. Eine Kunststoffüllung zu legen erfordert größeres Geschick und sorgfältigere Arbeit.
Schweden steigt aus
Dagegen argumentiert die Bundeszahnärztekammer jetzt mit der noch unbekannten Giftigkeit der Kunststoffe und schürt ihrerseits Hysterie: „Als Alternative zum Amalgam wird meistens Kunststoff propagiert, mögliche Nebenwirkungen werden in der öffentlichen Diskussion systematisch verharmlost. Das ist unverantwortlich. Aus Kunststoffen werden viele verschiedene Substanzen herausgelöst (unter Umständen Formaldehyd), über deren Giftigkeit wir noch wenig wissen.“ Wie die Skandinavier vertraue die Kammer daher weiterhin auf die „toxikologische Unbedenklichkeit“ des Amalgams.
Dabei bleibt die Frage offen, warum in Schweden seit Juli 1993 kein Amalgam mehr in Milchzähnen verwendet werden darf, seit Juli 1995 generell ein Verbot für Personen unter 19 Jahren gilt und Amalgam ab dem 1. 7. 1997 in ganz Schweden verboten sein wird. Auch Österreich will bis zum Jahr 2000 aus dem Amalgam aussteigen. Und in Kalifornien müssen bereits seit dem Dezember 1993 Schilder mit folgendem Inhalt aufgehängt werden: „Achtung! Diese Praxis verwendet Füllungsmaterialien, die Quecksilber enthalten und freisetzen. Diese Substanz verursacht nach Wissen der kalifornischen Regierung Geburtsschäden und andere Fortpflanzungsstörungen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen