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Auffädelung von Schönheit

■ Uraufführung von Robert Wilsons/Lou Reeds „Time Rocker“ im Thalia

Seit es den Cyberspace gibt, wirken Zeitreise-Phantasien ein wenig altmodisch. Denn ist die Zukunft der „Virtuellen Realität“ nicht schon die, wenn auch prosaische Erfüllung von H.G. Wells Vision einer Zeitmaschine? Die Wanderungen durch frei wählbare, gespeicherte Vergangenheiten und technisch visualisierte Zukunftsphantasien wird in Bälde Konsumenten-Gegenwart sein. Da erscheint die Idee der körperlichen Reise durch die vierte Dimension, für die der menschliche Organismus eh eine viel zu labile Einheit ist, wie eine Sehnsucht nach der Kindheit des technischen Zeitalters.

Robert Wilsons Abschluß seiner Musiktheater-Trilogie für das Thalia-Theater – nach dem Welt-Erfolg von Black Rider und der flauen Alice folgte am Mittwoch die Uraufführung von Time Rocker – versucht dann klugerweise auch gar nicht erst, derart nostalgische Schwelgereien zu vertuschen. Der texanische Jet-Set-Regisseur inszeniert das 19. Jahrhundert in der Disco.

Figuren, die den Bilderbüchern der Kolonialzeit zu entstammen scheinen, verirren sich statt in der Zeit in einem New-Wave-Ambiente und singen dabei mit schrecklichem deutschen Akzent Rockmusik von Lou Reed. Dazu liefert der amerikanische Autor Daryl Pinckney etwas metaphysisches Partygeschwätz über die Zeit als solches und schöne Fragmente unzähliger anderer Geschichten, und die Kostümbildnerin Frida Parmeggiani stellt ihre kühl-abstrakte Mode am sich steif zu verhaltenden Schauspieler aus. Das hört sich so alles sehr negativ an, ergibt aber in der Kombination ein reiches Bankett unterhaltender Genüsse, weil jeder und jede für sich ein Künstler, eine Künstlerin mit gutem Geschmack ist.

Wilson hat trotz Produktionen am Fließband in aller Welt die Macht über die Bilder noch nicht verloren. Auch wer sein Repertoire an Bewegungen, Lichtregie, Figuren und abstrakten Räumen inzwischen im Schlaf herbeten kann, wird sich an verschiedenen Dingen erfreuen können: beispielsweise an den großen Fischskeletten, in denen der des Mordes an seinem Professor bezichtigte Nick (Stefan Kurt) und die Haushälterin Priscilla (Annette Paulmann) auf der Suche nach dem verschwundenen Wissenschaftler durch die Zeit reisen, oder an einem Liebesduett auf dem Dach eines amerikanischen Holzhauses in der Flut bei Gewitter.

Geometrie, Grundfarben und harte Kontraste, kleine Intermezzi mit Lichtkästen, Puppenspiel und Scherenschnitt am Bühnenrand, das langsame Wandern von Gegenständen, die Wilson-Stühle und das ewig Puppenhafte, die Etikette sind immer dieselben, aber der Inhalt kann schon süffig sein. Lou Reeds Musik, die in klassischer Rockbesetzung live gespielt wird, mag altbacken und Geschmackssache sein, aber seine Fähigkeit, aus nahezu primitiven Strukturen ein Maximum an Atmosphäre zu schütteln, wie es sich bei der Szenenmusik vielleicht noch schöner zeigt, als in den Songs, bleibt beeindruckend.

Nur fehlt Lou Reed im Gegensatz zu Tom Waits, der die Musik zu Black Rider und Alice komponiert hatte, die theatralische Ader. Und damit befördert auch die Auswahl des New Yorker-Rock-Superstars als Komponist dieses „Musicals“ die Bauart des Stückes als Auffädelung beliebiger Schönheiten. 31 Szenen, 17 Songs, diverse Schauplätze und Zeiten – von den Kykladen in der Antike bis zur Käfig-Tanzschule in der Zukunft –, unzählige Kostüme, Bühenbilder und Requisiten und dazu eine Textcollage von bizarrer Zusammenhangslosigkeit befriedigen den unschuldigen Appetit auf ein Spektakel. Deswegen ist bei diesem perfekten Bildungsbürger-Musical die Erzählung beinahe ebenso nebensächlich wie eine narrative Spannung nicht vorhanden ist.

Und damit ist Time Rocker dem Cyberspace schon wieder sehr ähnlich: Auch dort ist Geschichte nur ein Accessoire.

Till Briegleb

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