■ Ökolumne: 364 Tage reichen Von Bernward Janzing
Lassen wir die Phantasie einmal spielen: Es ist Sonntag morgen, die Junisonne scheint in das offene Schlafzimmerfenster, die Luft ist ungewöhnlich klar. Es ist ruhig draußen; so ruhig, daß zum erstenmal seit Jahren wieder das Singen der Vögel zu hören ist. Der Vorgarten lädt zum Frühstücken ein – es ist autofreier Sonntag. Nebenan richtet sich eine junge Familie für eine Fahrradtour ein, denn heute ist das Radeln auch für die Kleinen überall ungefährlich. Kinder spielen auf der Straße Federball, und die Cafés in der Stadt haben die Zahl ihrer Sitzplätze im Freien deutlich erhöht – dort, wo sonst der Autolärm den Kaffeegenuß verleidet.
Illusorisch? Heute vielleicht noch. Wünschenswert? In jedem Fall. Denn immer dichter wird das Straßennetz in der Bundesrepubik, immer größer die Anzahl der Autos, immer massiver der Leidensdruck. Vor gut 20 Jahren in der Ölkrise waren autofreie Sonntage möglich. Warum also nicht auch heute?
Natürlich wird ein einzelner autofreier Sonntag im Jahr die Umweltprobleme nicht lösen. Dennoch brauchen wir einen solchen Tag – aus pädagogischen Gründen. Wir müssen erfahren können, daß Lebensqualität mehr ist als maximaler materieller Wohlstand und maximale Automobilität.
Das Dilemma: Ein Auto kann für den einzelnen Lebensqualität bedeuten. Zugleich mindert jede Autofahrt durch Lärm, Abgase und Unfallgefahren die Lebensqualität der Mitmenschen. Je mehr Straßen gebaut werden, je mehr Autos fahren, desto dominierender werden die Nachteile.
Doch das Dilemma führt dazu, daß Appelle, das Auto stehen zu lassen, trotzdem nicht reichen. Denn wer alleine verzichtet, muß die Belastungen durch den Autoverkehr der Mitmenschen dennoch ertragen. Erst wenn alle verzichten, erhält jeder einzelne auch eine Gegenleistung: autofreie Straßen eben.
Dazu fehlt heute vor allem die Phantasie. Die Beeinträchtigungen durch das Auto haben wir schon so sehr verinnerlicht, daß wir sie oft gar nicht mehr bewußt wahrnehmen. Gegen die Autos vor der Haustür fällt uns oft nicht mehr ein, als sie umzuleiten. Wir erliegen dem Trugschluß, mit Verkehrsleitsystemen den Infarkt verhindern zu können.
Die Modelle mit Zukunft sind andere. Eines wurde in den 70er Jahren entwickelt: Die Kommunen erkannten, daß autofreie Stadtzentren Lebensqualität bedeuten. Anfangs war der Widerstand groß, heute will niemand mehr auf die Fußgängerzonen verzichten. Ein Vierteljahrhundert später folgt die zweite Stufe der Entwicklung: Bauherren und Städteplaner erkennen, daß autofreie Wohngebiete eine höhere Lebensqualität bieten. Entsprechend sind in vielen Städten Projekte in Planung. Sobald ein erstes autofreies Wohngebiet bezugsfertig ist, wird dieses quer durch die Republik eine Lawine auslösen. Es wird mehr Überzeugungskraft besitzen als alle Argumente.
Auch der autofreie Sonntag ist ein Modellprojekt. Er hilft erkennen, wie sehr der Autoverkehr uns tagtäglich einschränkt. Er kann helfen, das Auto in seiner allzeit und überall präsenten Form abzuschaffen. Wir müssen – in einer Zeit, in der die Garage oft größer ist als das Kinderzimmer – wieder ein vernünftiges Verhältnis zum Auto bekommen. Das ging uns in den letzten Jahrzehnten verloren. Wie viele Menschen geben für das Auto mehr Geld aus als für ihre Kinder? Wie viele Menschen beschäftigen sich tagtäglich länger mit ihrem Auto als mit ihren Kindern? Der Versuch für einen bundesweit autofreien Sonntag ist überfällig. 364 Tage sind genug. Der morgige Aktionstag „Mobil ohne Auto“ könnte dafür Wegbereiter sein.
Früher oder später wird es einen solchen autofreien Sonntag sicher geben. Denn die Zahl der Menschen, die massiv unter dem Verkehr leiden, nimmt mit steigenden Fahrzeugzahlen weiter zu. Schon jetzt werben Jahr für Jahr mehr Ferienregionen mit einem regional begrenzten autofreien Sonntag. Ein erster bundesweit autofreier Sonntag ist der entscheidende Kick. Endlich wird eine Mehrheit feststellen können, wie wundervoll es ist, für einen Tag im Jahr vom Autoverkehr befreit zu sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen