: „Beutebücher“ der Roten Armee
■ Geschichtsforscher spürten verschleppte deutsche Museumsgüter und Millionen von Büchern in Rußland auf
Frankfurt/Main (taz) – „Einsatzstab Rosenberg“ oder „SS- Einheit Ahnenerbe“ hießen die Sondereinheiten der Nationalsozialisten, die hinter der Front in der Sowjetunion Kulturgüter raubten oder – wenn ein Abtransport nach Deutschland unmöglich war – zerstörten. Das sowjetische Pendant dazu nannte sich realsozialistisch schlicht „Trophäenkommission der Roten Armee“. Und nach dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland räumte diese „Trophäenkommission“ im Gegenzug in der sowjetisch besetzen Zone nicht nur Galerien und Museen, sondern auch Bibliotheken im großen Stil aus – unter anderem die weltberühmte Gothaer Bibliothek.
Insgesamt seien Bestände von rund zwei Millionen Büchern von dieser „Trophäenkommission“ in alle Teile der damaligen Sowjetunion verschleppt worden, glauben Experten. Klaus-Dieter Lehmann und Ingo Kolasa von der Deutschen Bibliothek in Frankfurt ist es in jahrelanger Recherchearbeit erstmals gelungen, große Teile dieser Bestände in Rußland zu lokalisieren, „von frühen Drucken der Gutenbergzeit bis zu Werken aus dem 19. Jahrhundert“.
Erst die Wende sorgte für einen, wenn auch immer noch mühsamen Zugang zu den Archiven in Rußland. Bis zur Auflösung der Sowjetunion hätten die sowjetischen Administrationen und die Rote Armee die Verschleppung von Büchern aus deutschen Bibliotheken „schlicht geleugnet“, sagten Lehmann und Kolasa gestern im Rahmen der Vorstellung ihrer Forschungsarbeit in Frankfurt. Und heute sei es – trotz anderslautender Verträge – Politik der Staatsduma der Russischen Föderation, den Beweis dafür anzutreten, daß dieser „Transfer von Kulturgütern rechtens“ gewesen sei. Lehmann: „Es sind sogar Gesetzesvorlagen in Vorbereitung, die diese Kulturgüter entgegen den mit der Bundesrepublik vereinbarten Abkommen zum nationalen Eigentum Rußlands erklären wollen.“
Lehmann, Generaldirektor der Deutschen Bibliothek und Mitglied der Deutsch-Russischen Regierungskommission zur Rückführung kriegsbedingter Kulturgüter, legte offen, daß er und Kolasa nur mit Hilfe „wohlgesonnener russischer Kollegen“ diverse Dokumente einsehen und auch kopieren konnten. Es handelt sich dabei um Quartalsberichte der „Trophäenkommission“, Fracht- und Transportlisten und Protokolle von sogenannten Verteilungssitzungen. „Bizarre historische Vorgänge“ (Lehmann) würden sich da erschließen.
Offenbar endete die gesamte Aktion der Verschleppung und der anschließenden „Verteilung“ in der Sowjetunion in einem „völligen Chaos“. Die „Kultur- und Bildungsbehörden“ hätten die riesigen Mengen an „weggeführter Literatur“ nicht mehr bewältigen können. Und noch in den 50er Jahren, als es um die Teilrückgabe von Beständen an die befreundete DDR ging, sei in der Sowjetunion niemand in der Lage gewesen, exakte Zahlenangaben über die „Beutebüchermengen“ zu machen, sagte Lehmann: „Viele unschätzbare Sammlungen wurden zerstückelt und in alle Teile der damaligen Sowjetunion verstreut.“
Die kostbarsten Zimelien (Kleinode) seien jedoch nach einer Prioritätenliste auf eine Handvoll großer russischer Bibliotheken verteilt worden – „und in denen lagern sie noch heute“.
Die Bundesregierung, so der Vertreter des Bundesinnenministeriums Waldemar Ritter gestern, betrachte die „Rückführungsfrage“ als „integralen Bestandteil der bilateralen Beziehungen zu Rußland“. Zweihunderttausend Museumsgüter, drei Kilometer Archivgut und eben diese zwei Millionen Bücher seien „deutsches Kulturgut“. Die Arbeitsergebnisse von Lehmann und Kolasa sind zu lesen in „Die Trophäenkommission der Roten Armee – Eine Dokumentensammlung zur Verschleppung von Büchern aus deutschen Bibliotheken.“ (Verlag Klostermann) Klaus-Peter Klingelschmitt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen