piwik no script img

Am Rande eines entenlosen Teiches ...

Fast alle Orchideen sind selten oder sehr selten. Der Zilpzalp macht zilpzalp, und vielfältig verwirrend ist die Namensvielfalt auf einer brandenburgischen Exkursion mit dem „Arbeitskreis Heimische Orchideen“  ■ Von Blumenfreund Wolfgang Müller

Bei seiner Gründung im Jahr 1961 war er der erste seiner Art in Europa: der „Arbeitskreis zur Beobachtung und zum Schutz heimischer Orchideen der DDR“. Heute, nach der Wende, nennt sich die Brandenburger Vereinigung „Arbeitskreis Heimische Orchideen“, kurz AHO. Jedes Jahr im Juni treffen sich die Mitglieder zur Bestandsaufnahme.

Die Vorsitzende Doris Beutler erwartet die Orchideenfreunde bereits am vereinbarten Treffpunkt, dem Bahnhof Müncheberg- Dahmsdorf. Wie viele kommen werden, weiß sie nicht, denn „seit der Wende ist alles anders. Die Mitglieder haben vor lauter Arbeit keine Zeit mehr, sich um Orchideen zu kümmern oder haben resigniert, weil sie keine Arbeit haben.“ „Früher hat der Verein manchmal bis zu 150 Interessierte angezogen; fast zu viele, um alles gut zu organisieren“, erinnert sich Günther Hamel, der seit 1962 dabei ist und den AHO von 1975 bis 1990 leitete.

Nach und nach trudeln die Exkursionsteilnehmer ein, und schon bald ist der Vorplatz des kleinen Bahnhofs mit bunten Pkws vollgestellt. Schließlich sind es fast dreißig Interessierte, die sich ein Bild vom derzeitigen Bestand der gefährdeten Gattung machen wollen. Immerhin sechzig wildlebende Orchideenarten existieren in Mitteleuropa, fast alle sind selten oder sehr selten.

Günther Hamel krempelt die Ärmel seines jägergrünen Hemdes um und erläutert das dreiteilige Exkursionsprogramm: Zuerst wolle man den einzigen Ort, wo Orchis militaris in Brandenburg vorkommt, aufsuchen, dann den Bestand der Dactylorhiza majalis kontrollieren, um vielleicht später einige Cephalanthera damasonium zu bewundern.

„Daß Sie kein Auto haben, macht nichts. Später nimmt Sie einer von uns mit“, beruhigt mich Frau Beutler und streift liebevoll die kleine Raupe ab, die orientierungslos auf ihren blauen Jeans herumkriecht. Doch erst mal geht es zu Fuß los. Hurtig setzt sich die Gruppe in Bewegung. Viele tragen grüne oder dunkelblaue Hemden, Jacken, Hosen, Westen; manche auch Blue bzw. Black jeans. Förster sind dabei, Umweltschutzbeauftragte, Naturschützer, Biologen und ein paar interessierte Laien.

Der Weg führt entlang der Bahndämme, vorbei an einer Kiesgrube, in ein kleines Wäldchen hinein, das zwischen bemoosten und befarnten Hängen vor sich hin träumt. „Das ist ein Pionierwald“, erklärt Herr Hamel. 120 Jahre lang wurde hier Kies abgebaut, bis 1930 die Ausbeutung der Grube abgeschlossen war. Allmählich siedelte sich Wald an. „Sekundärwald“, ergänzt Herr Hamel und streckt seinen Arm weit ausholend nach vorn. Die „Nationale Volksarmee“ habe später die noch freien Flächen auf dem besonders trockenen Areal zum Übungsschießen genutzt.

Es sind ja oft Militärsperrgebiete und Übungsplätze, auf denen seltene Pflanzen wachsen oder der Auerhahn kollert. So auch hier. Platanthera bifolia, die Kleine Stendelwurz, erkor sich diesen Standort. Die schlanke Pflanze erfreut ihre Liebhaber mit kleinen, süßlich duftenden Blüten. Für die Orchideologen – so lautet die offizielle Bezeichnung der Spezialisten – stellt sie ein ungelöstes Problem dar. Da sie sehr vielgestaltig ist, wird sie in etliche Unterarten aufgeteilt, deren Zuordnung fragwürdig und heftig umstritten ist.

Im Jahre 1898 empfahl der Berliner Botaniker Prof. Dr. Wilhelm Meigen in seinem Buch „Die deutschen Pflanznennamen“ die Umbenennung der Kleinen Stendelwurz: „Ich würde Waldhyazinthe vorziehen, weiß aber nicht, ob diese Benennung irgendwo in Gebrauch ist. Wenn die Wörter Stendel, Ragwurz, Knabenkraut aus der botanischen Namensgebung ganz verschwänden, so würde das kein Unglück sein.“ Seine Reformvorschläge blieben unbeachtet.

Wieso der Professor den Namen „Knabenkraut“ tilgen wollte? – „Was will man dem Knaben, der die sehr nahe liegende Frage thut, wie die Pflanze zu ihrem Namen komme, zur Antwort geben, ohne sich entweder einer Unwahrheit schuldig zu machen oder der guten Sitte ins Gesicht zu schlagen?“ Tatsächlich ist die Orchidee nach ihrer hodenförmigen Wurzel benannt. Wie im übrigen auch der „Knabe“ nach seinem Geschlechtsorgan benannt ist: Wörter mit dem Anlaut „Kn“ beziehen sich etymologisch gesehen auf Verdickungen: Knödel, Knolle, Knoten, Knospe.

Dem griechischen Wort orchis, deutsch: Hode, liegt zwar dieselbe Beziehung zugrunde, aber – so Professor Dr. Meigen — „dem Fremdworte“ ist „die Frage danach nicht so leicht zu besorgen und auch bei der Beantwortung das Anstößige eher zu umgehen“.

Und weiter geht die brandenburgische Orchideenwanderung. Frau Beutler winkt die Nachzügler dezent heran. Am Rande eines entenlosen Teichs ragen zwischen raschelnden Espen einige knospentragende Listera ovata aus dem Boden. Keiner der Anwesenden macht jedoch Anstalten, das „Große Zweiblatt“ – so wird die zweiblättrige Orchidee genannt – zu fotografieren. Es sieht schon jetzt nicht besonders attraktiv aus. Später, wenn es erblüht, wird sie kleine hutzelige grüne Blüten am Stengel tragen. Die zähe Spezies ist die häufigste Orchidee in Brandenburg, siedelt in Erlenwäldern gleichwie auf Grünland und hat dank ihrer Anpassungsfähigkeit und Anspruchslosigkeit sogar den Sprung von Europa in die nordamerikanische Flora geschafft.

„Das ist sonst nur der ,Breitblättrigen Sitter‘ gelungen“, sagt ein freundlicher Herr in dunkelblauem Hemd, grünen Knickerbockern und mit Fernglas um den Hals. Millionen von Espenblüten zittern geräuschvoll im Wind. Eine Ringelnatter huscht beim Anblick des Arbeitskreises verschreckt in den kleinen See. Die für den Menschen ungefährlichen Schlangen sind überaus gute Schwimmer und in diesem Biotop gar nicht so selten. Unaufhörlich singt ein Zilpzalp die Strophe, die ihm seinen Namen gegeben hat: „Zilpzalp, zilpzalp, zilpzalp.“

„Hier“, sagt Herr Hamel und weist auf die Böschung des Sees, „Orchis militaris – kurz vor dem Erblühen.“ Tatsächlich ist die mit glänzend grünen und saftigen Blättern ausgestattete Orchidee eine rechte Augenweide. Am 30 Zentimeter langen Stiel trägt sie etwa 20 rosafarbene Knopsen und zwei bereits geöffnete Blüten – schönes, blasses Rosenrot mit dunklen Spitzen und Flecken. Während ich das Objektiv einstelle, erklingt hinter mir die Stimme eines Orchideologen: „Das lohnt sich doch gar nicht. Ich fotografiere die erst, wenn die mindestens einen halben Meter groß ist.“ In der Tat zeigen die Fotos in den Fachbüchern und -zeitschriften ausschließlich besonders wohlgestaltete Exemplare in voller Blüte. Die Wirklichkeit sieht meist anders aus. Gern nagt eine Nacktschnecke an den Blättern – warum auch nicht? –, eine grüne Krabbenspinne webt ihren Kokon an den Blütensporn, oder ein Reh tritt zufällig mit seinem Huf auf den verwachsenen Stengel.

Der feuchte Boden dampft in der Hitze des Tages. Der erste Teil der Exkursion nähert sich seinem Höhepunkt. Hungrig läßt sich ein Holzbock von einer Moorbirke auf ein ahnungsloses Opfer fallen. Waldreben, weißblühende Clematis schlingen ihre Lianen urwäldlich um junge Eichen und Erlen, und es würde nicht verwundern, wenn der Erlkönig auf einem Schimmel dahergeritten käme, um die Besucher in seinem Reich willkommen zu heißen. Leider gibt es gar keinen Erlkönig. Herder hat das dänische Wort elverkonge, also „Elfenkönig“, fälschlich mit „Erlkönig“ übersetzt, und Goethe hat den Irrtum schließlich zur Titelfigur seines gleichnamigen Gedichts gemacht.

Auch die Iris sibirica, deren schwertförmige Blätter aus einer kleinen sumpfigen Bodenvertiefung ragen, ist sozusagen eine Übersetzung. Während noch einige Exkursionsteilnehmer darüber rätseln, wie das Gewächs aus Sibirien seinen Weg nach Brandenburg gefunden hat – ausgesetzt oder über Gartenabfälle hereingebracht? –, löst Herr Hamel das Geheimnis. Er selbst habe vor einigen Jahren die Pflanze hier angesiedelt. „Die gibt's doch in jeder Gärtnerei!“ grummelt jemand aus der zweiten Reihe.

Der kleine Trampelpfad führt einen glitschigen, lebermoosbewachsenen Abhang hinunter. Auf einer sonnendurchfluteten Lichtung leuchten zahlreiche rosarot blühende Exemplare der so überaus seltenen Orchis militaris, des Helmknabenkrauts, im feuchtgrünen Gras. „Hier, da ist eine und da“, raunen Stimmen. In das Summen der Mücken mischt sich das Klicken von Kameras. Auf der kleinen Wiese tummeln sich mittlerweile so viele Orchideologen wie Exemplare der prächtigen Orchidee.

„Vorsicht, da ist auch eine und da!“ flüstert ein Herr mit grüner Anglerweste und deutet mit dem Finger nach unten, wo einige junge, nichtblütentragende Pflanzen stehen. Knabenkrautgewächse brauchen oft Jahre für ihre Geschlechtsreife.

Wie kommt es eigentlich, daß die so friedlich aussehende Art militaris heißt? frage ich meinen Nachbarn, der eine überraschende Ähnlichkeit mit Rainer Eppelmann, dem letzten und ersten frei gewählten Verteidigungsminister der DDR, hat. Doch der schüttelt nur verständnislos den Kopf: „Ich weiß gar nicht, was heute alle gegen das Militär haben. In der DDR konnte man noch nicht einmal den Wehrdienst verweigern. Und bald kommt doch sowieso die Berufsarmee.“ Die Antwort auf die gestellte Frage entnehme ich der Fachzeitschrift Orchis: Die Blüte des Helmknabenkrauts zeige eine entfernte Ähnlichkeit mit einem helmtragenden Ritter.

Tatsächlich steht das Helmknabenkraut auf einem Schlachtfeld: Herr Hamel hat sich auf eine kleine Erhöhung gestellt und schildert den Kampf: „Wir haben hier bis in die späten achtziger Jahre Chemikalien eingesetzt, um die Lichtung von Bäumen frei zu halten. Es wurde regelmäßig entbuscht, Wurzeln wurden herausgerissen und vor allem die Rinden großflächig mit Gift bestrichen.“ Diese Methoden seien aber heute fragwürdig geworden, fährt er fort. Man müsse eben mähen, harken, ausreißen, gegebenenfalls auch brennen, um die Verbuschung, Verwaldung und das damit verbundene Aussterben der Pflanze zu stoppen.

„Das gibt's doch nicht – so viele zertretene Orchideen – schon wieder zertreten!“ schimpft unentwegt ein Exkursionsteilnehmer in grünbrauner Lederweste und starrt fassungslos auf den Boden. Die elegant gekleidete Mittvierzigerin mit Hochsteckfrisur und hochhackigen Korkpantoffeln neben ihm flüstert trocken: „Die schreien halt nicht.“ Besonders komisch findet das aber niemand. Tatsächlich haben mindestens drei der knapp fünfzig blühenden Pflanzen den Besuch der Orchideenfreunde überlebt.

Während noch Herr Hamel den Rückzug zum Bahnhof ankündigt, laufen zwei rote Käfer kopulierend einen Grashalm entlang, bis er schließlich unter ihrem Gewicht nach unten knickt. Ich muß an den Jesuiten Athanasius Kirchner denken, der seinerzeit schrieb, daß Orchideen Nahrung des Satans seien und dort wüchsen, wo Tiere sich begatten.

Nervös hüpft eine Blaumeise auf einen Seidelbastast und läßt ein nasal ansteigendes „Tserrretetet“ erklingen. Vorbei an rotblühendem Storchenschnabel, hellblauen Sumpfvergißmeinnicht führt der Weg aus dem Wald, entlang der Kriesgrube in Richtung Bahnhof. Eine Heidelerche singt im hohen, wellenförmigen Flug ein unentwegtes „Dlidliddlidlidi“. Die Sonne brennt auf das trockene Ödland, auf dem Ackersenf und einige Gemeine Nachtkerzen lange Pfahlwurzeln in den Sand treiben. Ihre zarten gelben Blüten werden sich erst gegen 18 Uhr öffnen, um – nicht ganz uneigennützig – Nachtschmetterlinge mit Nektar zu verköstigen.

Da es gilt, die nächste Etappe nicht aufzuhalten, bin ich etwas vorausgeeilt, springe in die Bahnhofsgaststätte, um eine Flasche Mineralwasser zum Mitnehmen zu erwerben. Zu spät: Die roten Rücklichter des bunten AHO-Autokorsos blinken rhythmisch in der Mittagssonne des Bahnhofs Müncheberg-Dahmsdorf.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen