: „Mit vier die Thora gelesen“
■ 70 Jahre danach – der ehemalige Hamburger Ephraim Schaffer besucht die Wohlers Allee, wo er einst in den Kindergarten ging
„Es war für uns jedesmal eine Freude, in den Kindergarten zu gehen, weil die Atmosphäre sehr fromm und jüdisch war. Vor allem die Feiertage waren große Erlebnisse für uns. Zu Chanukka im Dezember feierten wir zum Beispiel den Makkabi, der gegen die Römer gekämpft hat. Da wurden von uns Kindern Aufführungen gemacht. Die Makkabi-Geschichte zeigt, daß die Juden auch gekämpft haben.“ 60 Jahre nach seiner Emigration ist Ephraim Schaffer, der heute in Ramat Gan in der Nähe von Tel Aviv lebt, vor kurzem zum ersten Mal wieder nach Hamburg gekommen.
Vor dem Haus in der Wohlers Allee 58 erinnert sich der 76 Jahre alte Mann an seine Kindheit. „Der Kindergarten ein sehr hohes Niveau. Man war ehrgeizig, wollte zeigen, daß man mehr als die anderen konnte. Schon im Alter von drei, vier Jahren begannen wir die Thora, die hebräische Bibel, zu lernen. So hat sich der Verstand sehr geschärft. Manchmal hatten wir nicht genügend Gebetbücher, dann haben wir beim Nachbarn hineingeschaut und die Stellen dann auswendig gelernt.“
Da war Ephraim noch ein Hamburger Jung, auch wenn seine Eltern einen polnischen Paß besaßen. Mitten im Ersten Weltkrieg, in dem der Vater in der österreichischen Armee gedient hatte, waren sie von Nadvornaja in Galizien nach Hamburg gekommen. Seit fünf Jahren lebte die Familie schon in der Hansestadt, als Ephraim 1920 am Schulterblatt als Jüngster zur Welt kommt. Das kleine Textilgeschäft brachte soviel ein, daß bald ein Haus in der Eifflerstraße erworben werden konnte.
„1926, mit sechs Jahren, bin ich zur Schule gekommen, in die Palmaille. Das war eine jüdische Schule. Vom Schulterblatt bis zur Palmaille war ein weiter Weg. Die Eltern gaben uns Fahrgeld. Aber wir Kinder haben das Fahrgeld eingesteckt und sind zu Fuß durch die Straßen gegangen. Später gab es Probleme. Man sah uns an, daß wir Juden waren. Ich verstehe das nicht: Ich habe keine lange Nase, und Hörner wachsen mir ja auch nicht. Aber die anderen haben gemerkt, daß ich Jude bin. Und so habe ich Schläge bekommen.“
Familie Schaffer will sich diesem Terror nicht widerstandslos aussetzen. Der Vater tritt in eine Vereinigung polnischer Juden ein. Und auch die Kinder wissen sich zu wehren: „Mein Cousin, der war ein sehr kräftiger Kerl, der hat zurückgeschlagen. Auch wenn da fünf oder sechs waren, er hat gekämpft und Beulen davongetragen.“ Nicht immer ist genau zu erkennen, wer Freund oder Feind ist. Das gilt vor allem für die nächste Umgebung. Bisher freundlich und hilfsbereit, distanzieren sich die Nachbarn am Schulterblatt unmittelbar nach der Machtergreifung der Nazis von der Familie.
Ein älterer Bruder und eine Schwester wandern nach Palästina aus. Etwa zur gleichen Zeit feiert Ephraim in der Synagoge Adolphstraße bei Rabbiner Joseph Carlebach seine Bar Mizwa, die jüdische Religionsreife. Ein Jahr später sterben innerhalb kurzer Zeit sein Vater und seine Mutter. Doch noch funktioniert der übrige familiäre Zusammenhalt. Der in Hamburg gebliebene Bruder kümmert sich um Ephraim und die Schwester. Er verkauft das Haus in der Eifflerstraße, um die Auswanderung zu finanzieren.
1936 gelingt gelingt es Ephraim Schaffer mit einem Kinderzertifikat über Berlin und Triest nach Palästina zu entkommen. „In meiner Familie, die fromm und zionistisch war, träumten wir schon immer von der Auswanderung nach Israel. Für Juden, die assimiliert waren, bedeutete sie ein großes Problem: Ihr ganzer Stolz war ihre Umgebung, nicht das Judentum. Sie traf die Auswanderung mehr als uns, die wir einen orthodoxen Glauben hatten.“ Jens Michelsen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen