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Von Mäusen und Männern mit mehreren Köpfen

Wirre Mäuseriche, wütende Frauen, selbstzerstörerische Männer: Zum aktuellen Stand der Kunst im amerikanischen Underground-Comic  ■ Von Jens Balzer

Quimby, der Mäuserich, hat Kummer. Von den zwei Köpfen auf seinem Körper ist der eine schon seit Tagen malad. Erst geht ihm beim Treppensteigen und Tanzen ganz ungewohnterweise die Puste aus, dann verschmäht er sein Abendessen, dämmert bei der Einschlaflektüre dahin, und schon am nächsten Morgen ist er klamm, steif und tot. Und läßt einen halben Quimby zurück. Lange sieht man diesen noch, mit dem leblosen Kopf an der Seite baumelnd, traurig und sehnsuchtsvoll über glücklichere Tage sinnieren.

Ein rührendes Liebes- und Abschiedsmelodram zwischen zwei Teilen einer siamesischen Maus, inszeniert von Comiczeichner Chris Ware aus Chicago. Seine „ACME Novelty Library“ gehört zweifellos zu den großen Entdeckungen, die sich unter amerikanischen Independent-Comics heute machen lassen.

Und das nicht allein deshalb, weil – nebst allen Underground- üblichen Bizarrerien und Abseitigkeiten – Wares Geschichten mit einer berückenden Zartheit und Sanftmut gestaltet sind. Daß Quimbys Physiognomien ein bißchen an Buster Keaton erinnern und ein bißchen an die ersten, noch recht asthenischen (eher etwas rattig wirkenden Mäuse) Walt Disneys, ist kein Zufall, sondern eine Hommage.

Denn die gemeinsame Kindheit von Comic und Kino bestimmt die „ACME“-Bibliothek auch in ganz allgemein ästhetischer Hinsicht. Lange schon fühlte man sich nicht mehr ähnlich an Opulenz und Erfindungsreichtum klassischer Comic-Künstler erinnert, an McCay, Sterrett und Herriman, die einst noch allsontaglich ganze Zeitungsseiten zur gestalterischen Verfügung hatten, bevor die Comics dann ins enge Korsett der schmalen Strips gezwängt wurden und dort graphisch weitgehend verkümmerten.

Nicht so in Wares überformatigen Bänden. Wenn etwa der gesunde Quimby noch einmal die Stationen seines Lebens Revue passsieren läßt, wenn er darüber sinniert, wie es sich als nur noch halbe Maus wohl weiterhin leben läßt, verwickeln und verwirren sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gänzlich in der découpage. Die einzelnen Bilder verbinden sich nicht mehr nur von links nach rechts, sondern auch umgekehrt und von oben nach unten und führen immer wieder im Kreis an den Ausgangspunkt zurück. Die mäandernden Gedanken von Quimby, der Maus, werden als kryptisches Pfeildiagramm lesbar.

So trickreich, das hatte man beinahe vergessen, läßt sich im Comic erzählen – und so unfilmisch. Zwar provoziert Ware bisweilen den Effekt des „filmischen Sehens“: Durch den Unterschied zwischen den übergroßen Heftformaten und den winzigen, außerdem eminent gleichmäßig gestalteten Einzelpanels zwingt er den Blick des Betrachters in eine rasche, bruchlose Bewegung. Doch die Verästelungen des Seitenlayouts bremsen den Schwung immer wieder ab, zerstreuen den Blick, lassen ihn – vergeblich – den richtigen Weg durch die Seite suchen. So wird wieder sichtbar: Es ist alles doch nur montiert, zusammengesetzt und aneinandergefügt.

Eine Antwort auf die moderne Schaulust

Bastelanleitungen zuhauf gibt es auf den „redaktionellen“ Seiten, mit denen Ware die „ACME“- Bände detailverliebt ausstattet; nebst fiktiven Merchandising-Artikeln zu Quimby, der halben Maus, oder Sparky, dem sprechenden Katzenkopf ohne Körper, findet man allerlei optische Gerätschaften zum Selberbauen; eine kleine Guckkastenbühne, ein Mutoskop, aber auch winzige Extrahefte mit Extrageschichten zum Ausschneiden, Falten und Zusammenheften.

Hundert Jahre nach dem „Yellow Kid“, so scheint es, hat Ware die Comics in ihrer genuinen Modernität wiederentdeckt, in Partnerschaft und Konkurrenz mit den Illusionsapparaten der Jahrhundertwende; das heißt: als eine der einstmals zahlreichen Antworten auf die moderne Schaulust, der in ihren Ursprüngen das „Erzählerische“ – die Verknüpfung von Bildern in einer eindeutigen Reihenfolge zu einer bestimmten Geschichte – durchaus fremd war.

Leichthändig desavouiert Ware die sich heute trotz allem hartnäckig haltende Ansicht, Comics seien ein genuin und notwendig „narratives“ Medium. Dabei gibt es einschlägige Vorarbeiten, auf die er zurückgreifen kann, etwa von seinem Mentor Art Spiegelman (Wares erste Geschichten erschienen Ende der achtziger Jahre in Spiegelmans legendärem RAW- Magazin).

In seinen frühen „Breakdowns“ experimentiert Spiegelman mit mehrdeutigen Bildübergängen, Wiederholungen, Pfeildiagrammen, mit allen möglichen Formen der Verknüpfung von graphischen Zeichen, um später dann, wie man weiß, die dabei entstehenden Ambivalenzen und Unentscheidbarkeiten mit Bedacht in die eigene Autobiographie einzubauen, als Antidot gegen den naiven Umgang mit dem Begriff der Geschichte.

Wo er in „MAUS“ die Frage nach der eigenen Herkunft mit der Leidensgeschichte seines Vaters verknüpft, setzt Spiegelman Lebens- und Weltgeschichte, Gegenwart und Vergangenheit in Bildern und Reihen über-, unter- und nebeneinander, ohne sie doch wirklich je miteinander verschmelzen zu lassen. Im komplexen Bezugsraum der Comicseite werden die simplen Kausalketten der subjektiven Erzählung mit Bedacht überschritten.

So war es interessanterweise ganz generell in den letzten zehn Jahren: Nennenswerte ästhetische Neuerungen in den Comics wurden aus dem Mißtrauen gegen das Narrative geboren und waren vor allem dort zu beobachten, wo das individuelle Selbst, der Topos der Autobiographie zum bestimmenden Thema wurde.

Freilich zeigten sich nur die wenigsten Autoren von vornherein so sophisticated wie Spiegelman: Vor allem wurde die Rückkehr zum eigenen Leben, ganz im Gegenteil, zum willkommenen Anlaß, sich von jedwedem handwerklichen und erzählerischen Anspruch zu verabschieden. Wurde beides doch den entfremdeten Produktionsbedingungen der Superhelden-Comics zugeschlagen, der industriell gefertigten Adoleszentenlektüre, die zwar von sorgfältig ausgebildeten, aber ganz unselbständig arbeitenden Fließbandzeichnern hergestellt wird. Davon galt es sich zu befreien.

In den schlechteren Fällen – leider die Mehrzahl – führten Botschaften wie „Alles ist möglich“ und „Jeder kann mitmachen“ dazu, daß noch die banalste Belanglosigkeit für einen guten Comic zu reichen schien, wenn sie nur redlich präsentiert und authentisch war. Eine unübersehbare, immer noch anschwellende Flut von Fanzines und selbstproduzierten Serien bezeugt seither, wie spärlich bedeutsames Talent auch unter Comiczeichnern gesät ist. Und darüber hinaus: wie ereignislos und uninteressant sich ihr Künstlerleben im Durchschnitt gestaltet.

Doch nicht alle Autoren verloren sich im Sumpf hippietümelnder Nabelschauen. Unter den Bedingungen der freiwilligen erzählerischen Selbstbeschränkung blühte auch, wenngleich für nicht allzu lange Zeit, eine Kultur des Fragments, vulgo: der kleinen, lustigen Einfälle, die die Geschichten vom eigenen Leben zum Anlaß für ironische und gänzlich unauthentische Selbstinszenierungen nahm.

„Autobiographische“ Zeichnerinnen wie Julie Doucet, Fiona Smyth oder Mary Fleener kamen mit ihren vor Pulp-, Psychoanalyse- und allen möglichen anderen Zitaten nur so überbordenden Kürzestgeschichten letztlich den ästhetischen Kopfkautelen Spiegelmans wieder recht nahe, wenn auch aus der gerade entgegengesetzten Richtung. Denn sofern sie überhaupt etwas „erzählen“ wollten, dann immer kleinschrittig, nach vorne, auf die nächste erreichbare Pointe hin.

Die Attraktion dieser „kleinen Form“ ist inzwischen verblaßt. Doch während Julie Doucet bei ihren aktuellen Versuchen, heftfüllende und dramaturgisch halbwegs durchdachte Geschichten zu erzählen (wie in ihrem ersten auf deutsch erschienenen „Schnitte“- Heft), viel von ihrem früheren Charme eingebüßt hat, ist unterdes eine zweite Generation von Zeichnerinnen herangewachsen, die mit dem Verhältnis von Fragment und Erzählung souverän und vor allem völlig unprätentiös umzugehen versteht: Debbie Drechsler zum Beispiel, die in „Daddy's Girl“ die Geschichte eines Kindesmißbrauchs in kurzen, nur sehr unzulänglich miteinander verbundenen Episoden umkreist, gerade auf diese Weise aber klugerweise den Eindruck vermeiden kann, ihre Protagonistin durchlaufe eine wie auch immer determinierte „Entwicklung“, sei gefangen vom subjektiv unabänderlichen „Schicksal“.

Gleichwohl, man sieht: Auch wenn sich die erzählerischen Methoden wieder professionalisieren, das misanthrope Themenrepertoire der Underground-Comics bleibt bestehen – Kindesmißbrauch und gestörte Familien, Entfremdung, Autismus und Schizophrenie. Lediglich Ton und Gestus haben sich vervielfältigt.

Es gibt den Weltschmerz jetzt auch minimalistisch und spröde, wie bei Chester Brown: In seiner „Underwater“-Serie verfolgt er die Sprachfindung eines Kindes in einer abweisenden Umwelt, und das mit quälender, geradezu Handkescher Langsamkeit; schon vier Hefte sind erschienen, und bisher hat sich kaum ein verständlicher Satz darin gefunden.

Es geht aber auch kurzweilig und komisch. In seinen „Schizo“- Heften läßt sich Ivan Brunetti zum Pläsier des Publikums in allen nur denkbaren Varianten erschießen, erstechen, vierteilen, gruppenvergewaltigen oder anderweitig bedrängen. Am schlimmsten aber plagt ihn natürlich die elende innere Zerissenheit: „My body is a Gulag“, beschwert sich sein Alter ego, auf dessen Rumpf nicht nur zwei Köpfe um Sein und Bewußtsein konkurrieren, sondern gleich deren fünf.

Da geht es Quimby, dem Mäuserich, ja noch vergleichsweise gut. Nun hat auch Chris Ware in den neueren „ACME“-Ausgaben begonnen, sich eine richtige, sozialkritische Geschichte auszudenken („Jimmy Corrigan – the Smartest Kid on Earth“), mit Anfang und Ende und dabei durchaus spiegelmanesken Zügen: Ein alter Mann und sein gehbehinderter Sohn (Jimmy Corrigan) treffen sich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder. Beim Abendessen in einem trostlosen Diner stellen sie fest, daß sie sich nichts, aber auch gar nichts zu sagen haben.

So weit, so unschön. Aber dann: Während die beiden noch dabei sind, sich beredt anzuschweigen, springt vom Dach eines nahen Bürogebäudes ein Mann in einem Superheldenkostüm und ist sofort tot. Finis hominis, finis Comics. Solange uns solche albernen Metaphern weiter erheitern, wollen wir den ganzen Rest gerne ertragen.

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