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Berti tauscht das Trikolon

Vor dem EM-Halbfinale gegen England und nach dem 2:1 über Kroatien glaubt Berti Vogts, daß das Glück zu ihm gekommen ist  ■ Aus Manchester Peter Unfried

Das Leben ist ungerecht, und deshalb ist ganz Kroatien traurig. Berti Vogts aber strahlt neuerdings. Genauer gesagt strahlt er, seit Sonntag abend in Old Trafford abgepfiffen wurde.

Richtig beschwingt wirkt er. Jetzt sagt er natürlich immer noch Sätze wie: „Wer im Sturm spielen wird, werden wir rechtzeitig bekanntgeben.“ Aber er hat auch ein bemerkenswertes Trikolon geprägt: „Wir wollten nach London, wir sind in London, jetzt freuen wir uns auf London.“ Es ist klar: Der Bundestrainer sitzt im Landmark- Hotel am Kensington Park in der relativen Gewißheit, seine Minimalschuldigkeit getan zu haben. „Deutschland“, sagt Vogts, „gehört wieder zu den besten vier in Europa.“

Der 2:1-Erfolg über die kroatischen Fußballer mag glücklich gewesen sein, doch war er so glücklich, wie diese hinterher behaupteten? Slaven Bilic, der einstige KSC-Verteidiger, konnte sich gar nicht mehr beruhigen. „England ist das viel bessere Team“, warnte er die englischen Reporter, „aber die Deutschen haben das Glück.“ Das ist wohl gar wichtiger als der sogenannte „Schneid“. Den nämlich hatten in Old Trafford eindeutig die Kroaten. Woher er kam? „Sie hatten ihn uns abgekauft“, sagte Jürgen Klinsmann. Der Kapitän war nach 39 Minuten aus dem Stadion geführt worden. Ein Muskelfaserriß in der Wade hat seine EM beendet. Fast kamen ihm die Tränen, als er in der Mixed Zone später wieder einmal den „Charakter dieser Truppe“ über alles stellte.

Klinsmann selbst hatte den Charakter definiert, als er nach sechs Minuten Vlaovic übel in die Beine getreten hatte. Es war dies ein taktisches Mittel und sehr wohl „kalkuliert“, sagte Klinsmann. „Manchmal muß man klarmachen: Leute, paßt auf, bis hierher und nicht weiter.“ Das Unangenehme: Er hat womöglich recht. Die Kroaten hatten auf das physische deutsche Spiel mit einem noch körperbetonteren antworten wollen – und sie taten es. „Du und ich denken, daß die Deutschen physisch überlegen sind“, sagte Bilic. Nix davon: „Die waren ja so schwach.“ Das stimmt. Die Spieler wirken müde, viele Zweikämpfe gingen verloren. Insbesondere führte die Spur ins zentrale Mittelfeld. Als andere Mitspieler gegen Tschechen und Russen körperliche Überlegenheit herstellten, konnte Andreas Möller körperlos die entscheidenden Dinge tun, die er tun soll. Seit die anderen, Italiener und Kroaten, Tempo und Intensität des Spiels bestimmen, ist er eine Randfigur. Es kann gar nicht anders sein.

„Auf so einem Niveau“, sagt der kroatische Stürmer Suker, „entscheiden die kleinsten Details.“ Klinsmann ging, und das schien von wirklicher Symbolkraft. Daß Vogts dem qua Spieldefinition unsichtbaren Möller dann die Kapitänsbinde gab, schrie den Kroaten gleichsam entgegen, daß alles gut werde. Braucht keiner drüber zu lachen: Das ist Fußball.

Fußball ist auch, daß das klinsmannlose Team nun doch in London ist. Der bemerkenswerte Davor Suker war zweimal gegen den halbfitten Helmer zum Kopfball gekommen, Vlaovic hatte früh in der Begegnung seine Chance. „Wir spielten lange so, wie wir es wollten“, sagte Suker und lächelte fast heiter. „Sie konnten nicht antworten.“ Als er Köpke austanzte und zum 1:1 einschoß, war das Spiel eigentlich gelaufen. Dann aber sah Stimac für ein Foul an Scholl Gelb-Rot – und alles war anders: Sammer bewegte sich vorwärts. „Das entscheidende Goal“, sagte Vogts, „haben wir Matthias zu verdanken.“

Tatsächlich ist es eindeutig Sammer, der den Unterschied ausmacht. Er entschied das Spiel gegen die Russen, seine Schwäche ließ das ganze Team gegen Italien schwächeln. Weil Vogts' auserwählte Kreativspieler Möller und Häßler nicht können, sind die Deutschen ganz auf jene Qualitäten angewiesen, die die anderen „deutsch“ nennen. Doch Vogts' taktisches Konzept, das „Zustellen“, funktioniert nicht richtig, weil die Spieler nicht mehr genug laufen, oder „sehr viel unnötige Wege“, wie es Möller empfindet.

Was die Deutschen letztlich soweit gebracht hat, daß sie gestern abend im Wembley-Stadion trainieren durften, ist vermutlich eine gewisse nicht unterschreitbare Mindestqualität in der Organisation. Immerhin: Das Schlimmste hat das Duo Klinsmann/Vogts überstanden. Eine Niederlage gegen England wird man medial überleben. Vogts weiß das.

Vor zwei Jahren hatte er davon gesprochen, nach New York gewollt zu haben, in New York zu sein, sich auf New York zu freuen. Dann schickten ihn die Bulgaren eine Runde zu früh aus der Stadt. Es ist klar: Nun ist er eins weiter, nun sieht er sich als legitimer Nachfolger seines Vorgängers bestätigt. Es gibt nur einen feinen Unterschied. Berti Vogts glaubt, daß er sich sein Glück hart erarbeitet und daher redlich verdient hat. Seine EM-Erfahrung: Das Leben ist also doch gerecht! Deshalb strahlt er.

Kroatien: Ladic - Jerkan - Stimac, Bilic - Stanic, Jurcevic (78. Mladenovic), Boban, Asanovic, Jarni - Vlaovic, Suker

Zuschauer: 43.400; Tore: 1:0 Klinsmann (21./Handelfmeter), 1:1 Suker (51.), 2:1 Sammer (59.)

Gelb-Rot: Stimac (57.) wegen Foulspiels

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