: Hausverbot für „Pädophile Schundliteratur“
Das Buch eines Erziehers, das sexuellen Mißbrauch von Kindern voyeuristisch beschreibt, erregt die Eltern einer Kita und führt zu seiner Suspendierung. Autor will gegen Entlassung klagen. Bei Bundesprüfstelle läuft Antrag auf Indizierung ■ Von Barbara Bollwahn
Wie kann, darf oder soll man das Thema sexueller Mißbrauch von Kindern thematisieren? Ist es legitim, in einer fiktiven Biographie „das Verbrechen schamlos direkt“ aus der Sicht eines Erziehers zu schildern, oder ist das von dem mittlerweile suspendierten Erzieher Jochen Grasse verfaßte Buch „Mit den Augen des Scheusals“ nicht doch „pädophile Schundliteratur“, wie das Amt für Kindertageseinrichtungen der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg meint.
Seit Wochen herrscht unter den Erziehern und Eltern der evangelischen Kindertagesstätte der Emmaus-Ölberg Kirchengemeinde in Kreuzberg große Verunsicherung darüber, wo die Grenzen verlaufen zwischen der Fiktion des Buches und der Realität in der Kita. Sowohl der Autor als auch die Buchfigur hätten eine Vorliebe für Zirkusspiele, sagen beispielsweise Erzieher.
Jochen Grasse, ein beliebter und geschätzter Erzieher, der fünfzehn Jahre lang ohne Beanstandung in der Kita der Gemeinde in der Wrangelstraße gearbeitet hat, hat im März eine fiktive Biographie „Mit den Augen des Scheusals“ im Eigenverlag seiner Frau, die ebenfalls Erzieherin ist, herausgegeben. Auf voyeuristische Art beschreibt der 38jährige in der Ich- Form einen Erzieher, der die Schlafwachen ausnutzt, um „reine kindliche Körper“ zu mißbrauchen. In abstoßender Ausführlichkeit schildert der Autor seine „kleinen feinen Erlebnisse“ in einer abgeteilten Ecke des Schlafraumes.
Einen Monat nach Veröffentlichung des Buches wurde der Erzieher vom Dienst suspendiert. Ein Schritt, den sich die Kirche keineswegs leichtgemacht habe, betont der Geschäftsführende Pfarrer, Jörg Machel. Bereits vor Erscheinen des Buches habe es Gespräche mit Grasse gegeben. Doch die seien „wenig konstruktiv“ gewesen. Grasses Antworten auf das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität seien „schwammig“ gewesen. „Wir haben ihm nicht gekündigt, weil er identisch mit dem Täter aus dem Buch ist“, betont Pfarrer Machel. Doch Grasse habe den Verdacht, er sei „ein zutiefst Betroffener in der Problematik“, nicht ausgeräumt.
Als das Buch dann erschienen sei, so Pfarrer Machel, habe man die Eltern informiert. Obwohl vieles in dem Buch „dicht an der Realität“ sei, habe man den Eltern gesagt, daß es keine Hinweise darauf gebe, daß Grasse mit dem Erzähler identisch sei. Doch als die Mehrzahl der Eltern der 65 Kinder und die acht Kollegen von Grasse sich gegen eine Weiterbeschäftigung des Erziehers ausgesprochen und ein Elternpaar Strafanzeige gegen ihn gestellt hatte, konnte und wollte Pfarrer Machel die Verantwortung nicht mehr übernehmen und erteilte Grasse sofortiges Hausverbot. Auch in dem Angebot Grasses, seine Arbeit kontrollieren zu lassen und sich, wie vom Gericht angeregt, einem sexualpsychologischen Gutachten zu unterziehen, sieht die Gemeinde keine Lösung. „Wir können ihm doch nicht einen Psychologen an seine Seite stellen“, so Pfarrer Machel. „Wie sollen wir das den Eltern begründen?“
Grasse hingegen sieht sich als Opfer einer „haltlosen Meinungsmache“ und versucht nun vor Gericht, seine Wiedereinstellung zu erstreiten. „Das Buch ist Fiktion“, sagt er. „Der Täter darin bin nicht ich.“ Er habe „absichtlich Emotionen schüren“ wollen, um auf das Thema „aufmerksam“ zu machen. In der Diskussion über sexuellen Mißbrauch von Kindern würde „zu viel verdrängt werden“, so Grasse. Sein Buch will er als „aufklärerischen Schritt“ verstanden wissen. Er habe den Täter absichtlich als sympathische Person dargestellt, „um die Tarnung aufzuzeigen“. Wenn das Buch den Eindruck erwecke, daß er um Verständnis für den Täter werbe, so Grasse, tue ihm das leid. „Ich bin keine Gefahr für Kinder“, beteuert er seine Unschuld.
Die Suspendierung ist für Grasse, der sich seit seinem abgebrochenen Pädagogikstudium mit dem Thema beschäftigt, Ausdruck der „selbstherrlichen Haltung einer Kirche, die angesichts ihres immer geringer werdenden gesellschaftlichen Einflusses einen Schwächeren gefunden zu haben meint, an dem sie ihre im Schwinden befindende Macht noch einmal demonstrieren will“.
„Wir haben ein blödes Gefühl dabei“, sagt Machel über die Suspendierung. Grasse habe als Erzieher eine „pädagogisch phantasievolle Arbeit mit großen Qualitäten“ geleistet. Um Grasse genügend Zeit zu geben, sich eine neue Arbeit zu suchen, sei die Suspendierung erst zum Ende dieses Monats ausgesprochen worden. „Grasse war einer unserer besten Mitarbeiter“, betont Machel, „wir schicken ihn doch nicht einfach über den Jordan.“ Doch „wegen all der Unsicherheit“ habe eine Entscheidung getroffen werden müssen. Machel bedauert, daß durch das Buch eine „sinnvolle und wichtige Diskussion in eine schräge Richtung“ geraten ist.
Ist das Buch der Hilferuf eines Verzweifelten oder der mißglückte Versuch, das Mißbrauchsthema „medienwirksam“ aufzubereiten? Fragen über Fragen, die nur Grasse selbst beantworten kann. Dies tut er aber wenig überzeugend. Auf die Frage, ob er pädophil sei, antwortet Grasse zwar mit einem Nein – dem jedoch eine Pause folgt. Das Schweigen Grasses nach seiner Suspendierung enttäuscht die langjährige Kita-Leiterin Monika Grimkowski am meisten. Statt sich einem Gespräch mit den verunsicherten Kollegen und Eltern zu stellen, habe er sich nach der Kündigung krank schreiben lassen. „Der Autor muß mit Kritik umgehen“, fordert Grimkowski. „Wenn ich Bockmist baue, muß ich doch auch dafür geradestehen.“
Sein Schweigen begründet Grasse damit, daß er wegen des Verdachts auf ein Magengeschwür krank geschrieben war und „nicht offensiv“ habe auftreten können. „Das ist vielleicht ungünstig gelaufen“, gibt er zu.
Grasse führt als Beispiel für die „überzogene Reaktion“ seiner Suspendierung einen Fall von Kindsmißbrauch in einer Kreuzberger Kita an, in der seine Frau arbeitete. Dort wurde vor einigen Jahren ein Erzieher wegen sexuellen Kindesmißbrauchs in mehreren Fällen verurteilt. Zuvor war ihm wie Grasse gekündigt worden und er mit sofortigem Hausverbot belegt worden. „Die gleichen Konsequenzen wie für einen realen Täter“, klagt Grasse. „Ich habe doch nur ein Buch geschrieben“, verteidigt er sich kleinlaut. Von dem Buch, das in einer Auflage von 1.000 Exemplaren erschienen ist, wurden bisher 80 verkauft. „50 bis 60“, so weiß Grasse, haben Eltern der Kita in der Wrangelstraße gekauft. Pfarrer Machel ist um so mehr über Grasses „undifferenziertes Buch“ erstaunt, eben weil seine Ehefrau den Fall des verurteilten Erziehers so gut kenne.
Der Erzieher indes beklagt nicht nur das seiner Meinung nach „massive und rigorose Vorgehen seines Arbeitgebers“. Auch vom Amt für Kindertageseinrichtungen der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, an das er sich nach Erscheinen des Buches mit der Bitte um Unterstützung für eine Informationsveranstaltung zum Thema sexueller Mißbrauch an Kindern gewandt hatte, fühlt er sich im Stich gelassen. Das Amt distanzierte sich nach der Lektüre des Buches in aller Schärfe davon: „Die Schrift reiht sich sprachlich und inhaltlich in pädophile Schundliteratur ein“, teilte es Grasse mit. Das Buch sei statt eines Beitrags zur Aufklärung des Themas eine „Anleitung zum Mißbrauch“, so Regina Finke. Die Kita-Beraterin, die seit Jahren zusammen mit „Wildwasser“ und „Strohhalm“ Beratungen und Fortbildungen zum Thema sexueller Mißbrauch von Kindern durchführt, kritisiert „die Geilheit des Buches“ und „die mangelnde Abgrenzung zwischen Fiktion und Realität“. Das Nachwort, in dem der Autor die Fiktion der Handlung betont, sei nichts weiter als ein „Feigenblatt mit dem Zweck der Verbreitung dieser pornographischen Schrift.“ Die These des Autors, der den Mißbrauch als „infektiös“ bezeichnet, findet Finke „gefährlich“: Damit werde den Tätern jegliche Eigenverantwortung genommen.
Mittlerweile läuft bei der Bundesprüfstelle auf Antrag des Landesjugendamtes ein Antrag auf Indizierung des Buches. Das sei ausgesprochen selten, bestätigt die Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport. Der Geschäftsführende Pfarrer der Emmaus-Ölberg Gemeinde hält dieses Bestreben für wenig hilfreich: „Man kann doch nicht jedes beschissene Buch auf den Index setzen“, sagt er.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen