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Ich will es tun!

■ Liebe, Sex und Leidenschaft mit E-Mail-Verkehr im Cyberspace: Aus dem Tagebuch eines Net-Chicks

Ich möchte ihn so gerne reinschieben, aber es geht nicht“, klagte er. „Er ist irgendwie zu dick, paßt einfach nicht.“ „Ach ja“, seufze ich, „Männer und Technik!“ Diesen Carsten telefonisch auf den Datenhighway zu schieben ist keine leichte Aufgabe. Aber seine dunkle Stimme vibrierte angenehm im Ohr: „Mann, bin ich aufgeregt, ich will ja rein...“

Die sexuellen Bezüge unseres Gesprächs waren ihm zwar entgangen, aber ich sagte zu mir und meinem aufgeregten Kreislauf: „Ruhe bewahren, kommt Zeit, kommt Rat!“ Und dann zu ihm: „Du mußt dem Western-Stecker ein TAE-Interface verpassen...“

Geschlagene zwei Stunden haben wir telefoniert – wißbegierig hing er am Handy seines Mitbewohners, bis alle Stecker saßen, die Software geladen und er startklar war. Bei seinem Freudenschrei wurde mir warm ums ... ähm ... Herz. Ich gratulierte ihm, bemerkte, wie anzüglich doch die Computersprache sei. Was können wir dafür, daß der weltgrößte Softwarehersteller mit dem Spruch „plug and play“ wirbt: „reinstecken und spielen“?

5. Dezember 1995. Vor wenigen Minuten erhielt ich Carstens jungfräulichen Gehversuch im Internet: Hallo – hier bin ich – bist Du wirklich da draußen? Ich merke, wie verknallt ich bin. Ob dies wohl der Anfang einer Leidenschaft im Datennetz ist?

Befremdet und manchmal ein wenig neidisch verfolge ich die Berichte über die Online-Liebe, den Cyber-Sex und Eheschließungen im Internet. Mein täglicher, nüchterner Surfplan besteht aus Pressemeldungen, Mitteilungen von Reiseveranstaltern, Filmrezensionen, gelegentlich auch Stellenanzeigen. Doch allmählich beginne ich den wahren Reiz zu begreifen und zu spüren. In diversen Foren kann man – viel schneller als etwa in Kneipen – Gleichgesinnte finden und mit ihnen plaudern. Man tippt ein – und sofort kommt die Antwort zurück. Es ist aber auch eine männerdominierte Welt, und häufig gilt ein rauher Umgangston. Aber vielleicht ist das beim Flirten anders? Mal sehen, wie das alles weitergeht.

14. Januar 1996. Schließlich fand ich Deine Message, die mich knapp davor bewahrte, mich hemmungslos einer Flasche Wein zu überlassen. Also gehe ich mit dem seltsam beruhigend-guten Gefühl ins Bett, daß da irgendwo draußen eine schrecklich reizende unbekannte Person ein wenig an mich gedacht hat. – Carsten :)

Wir korrespondieren nun eine ganze Weile – erzählen vom Alltag. Seine charmanten Antworten auf meine E-Mails schmückt er mit :) und anderen sogenannten Emoticons. Mit diesen Zeichen, wie beispielsweise dem Lächel-Smiley :), drückt man eher unbeholfen Gefühle auf dem Bildschirm aus. Wir schreiben uns täglich – am Wochenende mehrmals am Tag. Die Themen: seine Launen, meine Versuche mit der Kochkunst, seine Alltagshektik, mein Bürostreß.

Allmählich erzähle ich intimere Dinge, die Post wird länger. Er spricht über verflossene Lieben, seine Eltern, ich über die Krankenhausaufenthalte meines Vaters. Er schreibt auch über den einen oder anderen laufenden Flirt. Gestern gestand ich meine Eifersucht. Ich will weitergehen – meine E-Mails schließe ich mit Zweideutigem.

26. Januar. Wir sehen uns nicht, sprechen uns nicht am Telefon, und dennoch fühle ich mich ihm verbunden. Schmiegen sich inzwischen unsere Computer-Interfaces aneinander? Beim Schreiben und Lesen der E-Mails spielt sich alles mögliche in meinem Kopf ab, und das, obwohl ich mich nicht genau erinnere, wie er aussieht. Das wichtigste Sexualorgan ist der Kopf. Bei einer realen Verabredung ist vielleicht eine Anziehung da, und irgendwann fängt man an rumzuknutschen. Langweilig. So vorprogrammiert. Bestimmte Ereignisse werden erwartet. Kriegt man die Kurve zum Sex nach einigen Dates nicht hin, ist es vorbei. Alles bleibt platonisch. Im Cyberspace gibt es keine Berührung, die erotische Kraft ist an das Wort und die Phantasie gekoppelt. Die ungewisse Zeit, in der man sich fragt: „Mag er mich? Will ich seine Haut auf meiner spüren?“, wird in die Länge gezogen. Man hat Zeit. Bis zum Kuß ist es noch weit. Und dann noch die wichtige Kondomfrage, die man sonst klärt, wenn die Jeans auf Knöchelebene gerutscht sind. Per E-Mail kommt dieses Thema nebenbei auf. Alles dauert. Und ich quäle mich gar nicht ungern mit einer sachte ansteigenden Sehnsucht.

7. Februar. Er geht später schlafen als ich, so habe ich morgens stets Post. Und wenn ich abends nach Hause komme, schalte ich als erstes den Computer ein. Mein Herz pocht, meine Wangen glühen, und die 20 Sekunden für das Laden der neuen Post sind mir immer zu lang.

Die Anspielungen in unseren E-Mails häufen sich: Komm, leg Dich hin. Ich streich Dir über den Rücken. Meine Antwort ist lediglich: mmmmmhhhhhhh...

Ich hatte Carsten nur einmal gesehen, flüchtig, auf einem Fest, und fand ihn schnuckelig. Wir tauschten Telefonnummern aus, doch erst als ich ihn bei meinem Onlinedienst anwarb, nahmen wir Kontakt auf.

8. März. Die Wochen vergehen, und der Entschluß ist gefaßt. Ich will es tun. Nein, nicht telefonieren. Auch nicht die 600 Kilometer weit fahren, um ihn zu besuchen. Komisch, aber diesen Gedanken habe ich nie. Ich will mit ihm schlafen. Online. Meine Einladung – in leicht gekürzter Form:

Carsten, ich, mmmhhh, mach bitte das weiter so, am Rücken, ja das ist toll. Warte, ich drehe mich um ... mmmmhhhhhh. Ich, uh, mmmmmmm ich ... Das ... mmmmmmhh ... ist aber ... mmmmhhh. Ich wußte nicht, wie sehr Du ... mmmmhhhhhh ... Ooooooooooooooooohhhhhhhh. Ja, jaaaaaaaaaaa.

Das liest sich vielleicht ein wenig schlicht. E-Mail ist in solchen Situationen einfach nur eine abstrakte Form des zumeist ja auch eher wortkargen Vorspiels. Trotzdem sexy. Fand Carsten offensichtlich auch. Seine – gekürzte – Antwort nach dem Akt:

Liegst Du gut? mmmmhhh. Du bist so weich ... mmmmhhhh. Warte ... ich stehe nur kurz auf und hole uns was zu trinken. ... Hi, da bin ich wieder ... hier ... mmmhh, rutsche doch bitte näher .... mmmmmhh.

Nach dieser elektronischen Nacht wird unser E-Mail-Verkehr intensiver. Und das Verlangen nach Verkopplung weiterer Interfaces heftiger. Wir haben es getan. Aber irgendwie war es wie ein Essen beim Chinesen – danach hat man gleich wieder Hunger.

31. März. Der Schritt vom Cyberspace in die Realität ist getan. Carsten hat dieses Wochenende die Rückkehr einer Auslandsdienstreise ein wenig umgebucht und kam abends zu Besuch.

Sein Flug hatte Verspätung und ich eiskalte Hände. Würde ich ihn wiedererkennen? Als er schließlich aus dem Zoll kam, war das dann kein Problem mehr. Wir lachten uns an, umarmten uns, und ich brachte ihn ein wenig verlegen zu meinem Wagen. Ich wußte soviel über ihn beziehungsweise den Cyber-Carsten, aber nichts über den realen Carsten. Oder etwa doch? Ich suchte nach Worten. In der Kneipe unterhielten wir uns, aber meine Verlegenheit wich kaum. Diese beiden Männer fügten sich erst langsam zu einer Person zusammen. Nach etwa zwei Stunden streckte ich die Hand aus und sagte: „Komm, laß uns gehen!“ Und ärgerte mich gleich über meine wenig romantische Einlassung. Nach einem weiteren Drink in meiner Wohnung begann alles seinen durchaus normalen hormonell gesteuerten Gang zu gehen. Ich bin ja auch nur eine Frau aus Fleisch und Blut.

31. Mai. Das ist jetzt schon eine Weile her. Seitdem haben wir uns zahllose E-Mails geschickt und außerdem viel telefoniert. Ich war rasend glücklich und irre verliebt. Als seine Firma ihn mehrere Tage auf eine Messe in meine Stadt schickte, wohnte er bei mir, ich verbrachte zwei Wochenenden bei ihm. Doch sechs Wochen nach dem letzten Besuch kommen die E-Mails nur noch sporadisch, und die Telefonate scheinen ihn zu nerven. Was soll bloß werden, jetzt, wo etwas da ist? schrieb er letzte Woche, und gestern platzte die Bombe. Er sagte am Telefon, er wolle „Normalität, etwas aufbauen, sich öfter sehen“, und entschied, es bei einer „Affäre“ bewenden zu lassen. Hart getroffen, aber dennoch ganz geistesgegenwärtig wünschte ich ihm ein nettes Leben und bat ihn, den Pullover, den ich bei ihm vergessen hatte, zurückzuschicken. Er hängte ein. Scheißnormalität. Wäre ich nur im Cyberspace geblieben!

4. Juni. In meinem Liebeskummer scrolle ich immer wieder am Bildschirm durch unsere Korrespondenz, die ich abgespeichert, aber nie ausgedruckt habe. Unsere Liebe hat eigentlich fast nur im Cyberspace gelebt. Wütend habe ich gerade seine Anschrift aus meinem elektronischen Adreßbuch gelöscht. Der Computer fragte nach: Möchten Sie wirklich Carsten B. löschen? Ich klickte ja und machte dabei eine Handbewegung wie Boris Becker im Tie-Break. Mache ich den Computer aus, verschwindet alles, bis auf den Schmerz. Hätte ich doch nur Computerplatinen statt eines Herzens!

30. Juni. Langsam läßt der Liebeskummer nach. Gestern streunte ich ein wenig ziellos in einem Online-Forum herum und las die Meldungen. Plötzlich tauchte auf meinem Schirm die Frage auf: Darf Mark L. Sie zu einem Gespräch einladen? Ich klickte ja. Wir plauderten per Tastatur vor uns hin und tauschten E-Mail-Adressen aus. Später entdeckte ich Post in meinem elektronischen Briefkasten – eine Grafikdatei. Die schöne Zeichnung war mit den Worten versehen: Cyber-Rose für Dich – Mark.

Hmm. Meine erste Cyber-Rose. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine echte Rose erhalten habe. Da wird es mir doch warm ums ... ähm ... Herz. Bettina Schmidt

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