piwik no script img

Sippe, Clan, Stamm

Teil 2: Die Komplexität sozialer Zusammenhänge bei der Ethnie Hanse-Politiker  ■ Von Silke Mertins taz-Serie: Die Stammesriten der Bürgerschaft

Zähnefletschend stehen sich diese Menschen gegenüber, die Hände zu Fäusten geballt. Sie schreien, sie brüllen, sie gestikulieren wild, mit Mikrophon und auch ohne, vor, hinter und zwischen den Bänken. Schreckliche Szenen mußten EthnologInnen bei ihrer Feldforschung in der Hamburger Palaverhütte namens Rathaus mit ansehen. Wie kann es sein, fragten sich die Wissenschaftler, die das Sozialverhalten der Ethnie Hanse-Politiker in teilnehmender Beobachtung studierten, daß innerhalb einer Gruppe derart barbarisch miteinander umgegangen wird?

Die Erklärung, es handle sich eben um eine primitive Gruppe, deren Kommunikationsfähigkeit unterentwickelt sei, wurde von der Wissenschaft schon vor einigen Jahren verworfen. Heute gilt jede Ethnie als gleichwertig und gleich komplex – auch die Hanse-Politiker, die zu den Jägern und Sammlern gehören und sich selbst Bürgerschaftsabgeordnete nennen.

Genauer betrachtet ist das Verhalten der Bürgerschaftler nicht so ungewöhnlich wie es auf den ersten Blick scheint. Lange wurde von den EthnologInnen ungenügend berücksichtigt, daß die Hanse-Politiker sich in Untergruppen teilen, daß es neben der Stammeszugehörigkeit zur Bürgerschaft auch die Sippe und den Clan gibt. Und da ist es ganz normal, daß man immer zuerst die eigene kleine Gruppe (Sippe) verteidigt, aber dennoch fest zusammenhält, wenn der Clan von außen angegriffen wird.

Bei den Bürgerschaftlern verhält es sich folgendermaßen: Der Stamm ist in vier Clans unterteilt, die SPD, die CDU, die GAL und die Statt Partei. Die Clans wiederum spalten sich in zumeist drei Sippen, die sich links, rechts und Mitte nennen. Für den Forscher sind real keine Unterschiede zu erkennen. Insbesondere bei dem SPD-Clan scheint die Sippenzugehörigkeit herkunftsbedingt zu sein (Wandsbek, Nord usw.).

Die GAL stellt einen Sonderfall dar. Zum einen grenzt sich dieser Clan in Umgangsformen und Kleiderordnung von den anderen ab. So ist es beispielsweise ein Tabu, sich untereinander mit der „Sie“-Höflichkeitsform anzureden. Zum anderen ist die Sippenzugehörigkeit sozialisationsbedingt. Der Clan ist in die Sippen Fundis, Realos und ZAS („Zwischen allen Stühlen“) gegliedert.

Bei der Vergabe von lukrativen Posten und Führungspositionen innerhalb eines Clans muß die Sippenzugehörigkeit stets berücksichtigt werden. Bei Nicht-Beachtung können irreparable Schäden im sozialen Gleichgewicht entstehen.

Die verbalen Schlachten (Eigenbezeichnung: Debatten) zwischen den Clans, die hochgradig ritualisiert von einer Zeremonienmeisterin (Eigenbezeichnung: Bürgerschaftspräsidentin) gesteuert werden, sind zudem gewollt und dienen, ähnlich wie die in diesem Kulturkreis verbreiteten Sportarten, als psychisches Ventil. Da bestimmte Regeln eingehalten werden müssen – dazu zählt auch ein Beschimpfungsritual –, darf es deshalb nicht verwundern, daß sich die scheinbaren Streithähne anschließend gern wieder auf die Schulter klopfen und ein Schwätzchen halten. Denn letztlich fühlt man sich doch dem Stamm (Bürgerschaft) verbunden und verteidigt damit verbundene Privilegien mit vereinten Kräften nach außen.

Zusammenfassend muß festgestellt werden, daß die martialisch anmutenden Fehden zwischen den Gruppen keine unkontrollierten Entgleisungen des Sozialverhaltens darstellen, sondern zentraler Bestandteil der kulturellen Identität der Hanse-Politiker sind. Die Feinheiten ihrer Rituale wissenschaftlich zu erfassen, muß vorrangiges Ziel ethnologischer Forschung werden.

Am nächsten Sonnabend

in Folge 3: Der

archaische Häuptlingskult

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen