Tunnel-Gang erwartet Urteil

■ Heute wird das Strafmaß für die Tunnelgangster festgesetzt. Über die Hintermänner und den Verbleib von knapp 5 Millionen Mark aus der Beute darf weiter spekuliert werden

Fünf Männer haben ein Stück Kriminalgeschichte geschrieben. Sie werden in den nächsten Jahren genug Zeit haben, das Nachwort zu verfassen. Heute wird das Urteil im Prozeß gegen fünf der mutmaßlichen Tunnelgangster verkündet, die im Juni letzten Jahres eine Filiale der Commerzbank in Zehlendorf überfielen, 16 Geiseln in ihre Gewalt nahmen und dabei mindestens 9,6 Millionen Mark erbeutet haben sollen.

Anderthalb Jahre lang buddelten die Tunnelgangster in aller Ruhe einen 70 Meter langen Fluchttunnel zur Bank. Nach vier Wochen hatte die Polizei sechs der mutmaßlichen Täter verhaftet. Drei Monate dauerte die Verhandlung des in der deutschen Nachkriegsgeschichte spektakulärsten Bankraubs. Von den knapp 10 Millionen Mark wurde bisher aber nur die Hälfte sichergestellt. Die spannendste Frage wird heute die Höhe der Strafe sein. Alle Beschuldigten, auch der mutmaßliche Hauptdrahtzieher, der 46jährige Syrer Khaled al-Barazi, haben ihre Beteiligung an dem Raub am 27. Juni 1995 gestanden. Der Staatsanwalt sprach beim Plädoyer vergangene Woche von einem „einmaligen, genialen Coup“ und bescheinigte den Angeklagten eine „erhebliche kriminelle Energie“. Der Staatsanwalt forderte Haftstrafen zwischen acht und vierzehn Jahren. Die Liste der Vorwürfe kann sich mit der Länge des Fluchttunnels messen: Die Angeklagten sind nach Überzeugung des Anklägers der Geiselnahme, des erpresserischen Menschenraubs, der schweren räuberischen Erpressung, des schweren Raubs sowie des Besitzes von Schußwaffen und Handgranaten überführt.

Die höchste Strafe wurde für Khaled al-Barazi beantragt. Er soll den Coup während eines Gefängnisaufenthaltes ausgeheckt haben. Doch al-Barazi wäscht seine Hände in Unschuld. Der Syrer, der jahrelang für die Spionageabwehr der Staatssicherheit gearbeitet haben soll, hatte ausgesagt, daß ein Unbekannter den Überfall finanziert habe. Für den Staatsanwalt eine Räuberpistole. Der 38jährige Libanese Ibrahim Dergham, laut Anklage die rechte Hand des Bandenchefs, soll für dreizehn Jahre hinter Gitter. Dergham, der das Tunnelbauen bei der PLO gelernt hat, soll die Erdarbeiten geleitet haben.

Einen Teil der Helfer haben die beiden mutmaßlichen Bandenchefs in ihren Familien rekrutiert. Khaled al-Barazi weihte seine beiden Brüder Houda und Moutaz ein. Ohne den Autolackierer Moutaz al-Barazi wäre der Tunnelcoup gar nicht möglich gewesen. Der 38jährige hat die Garage, von der aus der unterirdische Fluchtweg gegraben wurde, angemietet und umgebaut. „Tunnel-Toni“ wurde bereits Ende Juni verurteilt – zu zweieinhalb Jahren wegen Beihilfe. Auch Dergham spannte ein Familienmitglied ein. Sein Bruder Ali half beim Tunnelbau und war an dem schwerbewaffneten Überfall, bei dem niemand ernsthaft verletzt wurde, beteiligt. Für den einzigen Deutschen unter den Angeklagten, den 23jährigen Sebastian Vierath, der die Verhandlungen mit der Polizei geführt hatte und während der Geiselnahme besonders brutal vorgegangen sein soll, beantragte die Staatsanwaltschaft zwölf Jahre Haft. Die Verteidiger der Beschuldigten hatten für siebeneinhalb bis maximal zehn Jahre Haft plädiert. Die Angeklagten hätten die Geiseln nicht als Schutzschilde mißbraucht.

Die Beschuldigten entsprechen so gar nicht der Vorstellung von Superhirnen, die der brave Banksparer hinter so einem (fast) perfekten Banküberfall vermutet. Einige von ihnen waren vor dem Coup arbeitslos und lebten von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe. Der 33jährige Syrer Mohanad al- Karmi, der gleich am ersten Verhandlungstag gestanden hatte, kann nicht lesen und schreiben und ist schwerhörig. Der Polizistensohn Vierath wirkt zwar auf den ersten Blick wie ein Edelganove: Zu Prozeßbeginn war er in einem blütenweißen eleganten Anzug erschienen und machte aus seinem Stolz, dazuzugehören, keinen Hehl. Doch statt die Fragen des Gerichts ernsthaft zu beantworten, warf er Winkehändchen ins Publikum oder flirtete mit seiner Freundin.

Auch an Pannen bei den polizeilichen Ermittlungen mangelte es nicht. So war es nur der Ausdauer eines der Angeklagten zu verdanken, daß er hinter Schloß und Riegel gebracht werden konnte. Als er während seines Kuba-Urlaubs von der Fahndung erfuhr, wollte er sich auf dem Frankfurter Flughafen stellen. Doch eine Beamtin sah in ihm mehr einen aufdringlichen Verehrer als einen gesuchten Bankräuber. Erst beim dritten Anlauf wurde der Gesuchte festgenommen. Barbara Bollwahn