: Literatur heißt weitersagen
Die Literatur der DDR: von den Institutionen bevormundet und für kulturpolitische Zwecke eingespannt, vom Westen als Projektionsfläche für eigene Utopien benutzt. Zwei Literaturgeschichten fragen jetzt, was bleibt ■ Von Peter Walther
Die erstmals 1981 erschienene DDR-Literaturgeschichte von Wolfgang Emmerich war über die Jahre hinweg die wichtigste Gesamtdarstellung zum Thema. Wer immer sich im Westen einen Überblick über DDR-Literatur verschaffen wollte, war mit dem Buch des Bremer Literaturwissenschaftlers gut beraten. Im Osten gab es offiziell nur ein Exemplar des Buchs – im Giftschrank der Deutschen Bücherei in Leipzig.
Nun hat Emmerich eine aktualisierte Neufassung der zweiten Auflage von 1989 vorgelegt. Ist es sieben Jahre nach dem Fall der Mauer überhaupt noch legitim, sich auf den historischen Kontext der DDR zu beschränken, oder müßte nicht der Zusammenhang der verschiedenen deutschsprachigen Literaturen berücksichtigt werden? Wie steht es um die vormals wegen ihrer kritischen Haltung zum Staat im Westen vielgelobten Autoren, deren Wertschätzung im Verlauf des Literaturstreits und durch die Aufdeckung von Stasi-Kontakten in zahlreichen Fällen empfindlich Schaden genommen hat?
Wolfgang Emmerich weiß um die Brisanz seines Unternehmens: „Der vielleicht entscheidende Pferdefuß der DDR-Literatur- Forschung war ihre umfassende und allseitige Politisierung“, schreibt er im Vorwort der Neuausgabe. Auch heute noch ist eine DDR-Literaturgeschichte ein politischer Drahtseilakt. Grundlegende Kritik am Konzept von Emmerichs Darstellung wurde schon vor 15 Jahren laut: Der Verfasser hätte die Literaturentwicklung in der DDR – auf Kosten ästhetischer Kriterien – entlang kulturpolitischer Eckdaten beschrieben, lautete im Kern die Kritik. Emmerich hält im Vorwort der Neuausgabe mit Recht dagegen, daß die Literatur in der DDR „entschieden als nichtautonome Literatur definiert war. (...) Folglich wäre eine Literaturgeschichtsschreibung, die diese machtvolle Systemvorgabe einfach ignorierte und sich auf Text- und Formgeschichte beschränkte, historisch verfehlt.“ Auch wenn er einräumt, die Bedeutung der Kulturpolitik für die Literaturentwicklung in der bisherigen Darstellung überbetont zu haben, behält Emmerich seine Gesamtkonzeption im wesentlichen bei.
Was aber ist das eigentlich Neue an der Neuausgabe? Zunächst einmal wurde das Korpus der behandelten Autoren und Werke auf den neuesten Stand gebracht, was sich in einem Ergänzungskapitel zur Literatur 1989–95 niedergeschlagen hat. Stichworte für dieses Kapitel sind der Zusammenbruch des staatlich gelenkten Literaturbetriebs, die Querelen um die Vereinigung von Akademie, Schriftstellerverband und PEN, die Stimmungslage der Autoren „zwischen Hypertrophie, Utopie und Melancholie“ und der Verlauf des Literaturstreits. Aktualisiert und um Forschungsergebnisse der Nachwendezeit bereichert worden sind jedoch auch die anderen Kapitel. Hier konnte vieles nachgetragen werden, was durch Öffnung der Archive erst in den letzten Jahren ans Licht gekommen ist: Details über das Getriebe der Zensur, die Stasi-Unterwanderung der Prenzlauer-Berg-Szene oder die entsprechenden Verwicklungen des Schriftstellerverbandspräsidenten Hermann Kant, den Emmerich mit dem vielsagenden Slogan zitiert: „Literatur heißt weitersagen“.
Viel gravierender als diese Änderungen ist jedoch die politische Neubewertung, die der Verfasser im Blick auf die DDR-Geschichte vornimmt. Auch wenn die vorangegangenen Ausgaben der Literaturgeschichte keineswegs schönfärberisch waren, hatte Emmerich darin, wie er selbst in einem hinzugekommenen Einleitungskapitel schreibt, „dem Staat DDR und seinen offiziellen kulturellen Hervorbringungen immerhin einigen Kredit eingeräumt“. Freilich stand er damit nicht allein. Seit Ende der 60er Jahre diente die DDR-Literatur im Westen zunehmend als Projektionsfläche für eigene utopische Entwürfe. Über die politischen Lager hinweg konnte sie als ein „Medium vehementer Kulturkritik“ mit Sympathie im Westen rechnen. Die „Loyalitätsfalle Antifaschismus“, auf die der Verfasser im Vorwort eingeht, spielte dabei eine große Rolle.
Wolfgang Emmerich hat seine Literaturgeschichte nicht mit dem Eifer des Konvertiten umgeschrieben, sondern bei der Neubewertung Augenmaß behalten. An seinen ästhetischen Wertungen hat er ohnehin kaum Abstriche gemacht. Manche Änderungen wirken etwas verkrampft, etwa wenn aus der Zwischenüberschrift „Die Einbürgerung der antifaschistischen Exilliteratur“ im neuen Band „Die halbierte Einbürgerung...“ wird. Andere Formulierungen, die die Distanz zur DDR-Terminologie vermissen ließen, sind zu Recht geändert worden. Mit dem gut lesbaren literaturhistorischen Hauptteil, der ausführlichen, aktualisierten Auswahlbibliographie zur DDR- Literatur, einer synoptischen Zeittafel und dem nützlichen Namensregister wird sich auch die Neuausgabe von Emmerichs Literaturgeschichte als Standardwerk zum Thema behaupten können.
Derzeit wird an allen Enden an der dünnen Lügendecke gezupft, die die offizielle DDR-Historiographie über die Geschichte des Landes gebreitet hatte. Der Schwerpunkt der Forschung liegt in Berlin, wo Wissenschaftler im „Forschungsverbund SED-Staat“ an den drei Universitäten der Stadt und am Potsdamer Institut für zeitgeschichtliche Forschungen zum Teil schon seit Jahren die schriftliche Hinterlassenschaft der DDR sichten. Auch Carsten Gansel, Autor des Buchs „Parlament des Geistes“, hat sich für seine Studien aus dem Archivbestand verblichener DDR-Organisationen wie dem Schriftstellerverband oder der SED bedient. Ihm geht es, anders als Emmerich, nicht um eine Überblicksdarstellung der wichtigsten Werke und Autoren, sondern um die Rekonstruktion jenes speziellen Bedingungsgefüges in der SBZ beziehungsweise der DDR, in dem Literatur während der Jahre 1945–61 entstanden ist. Herausgekommen ist keine trockene Institutionsgeschichte, sondern eine spannend zu lesende Dokumentation der Gründerjahre der DDR- Literatur.
„Ihr seid zurückgeblieben, weit zurückgeblieben“, rief Walter Ulbricht 1948 den in der SED organisierten Schriftstellern und Künstlern zu, gestand jedoch immerhin zu, daß „Formalisten und Expressionisten oder sonstwas (...) nicht (...) unter die Säuberung fallen“. Zu jener Zeit war der Schutzverband Deutscher Autoren (SDA), der sich in der Nachfolge des SDS aus Weimarer Zeit als bloßer Berufsverband verstand, die einzige Organisation von Schriftstellern in Gesamt-Berlin und der SBZ. Im SDA hatte sich das Nebeneinander der verschiedenen ideologischen Positionen aus den ersten Jahren der Nachkriegszeit noch weitgehend erhalten, auch wenn die Zeiten längst vorbei waren, da der Kritiker Friedrich Luft, die Tagesspiegel-Herausgeber Walther Karsch und Erik Reger mit Johannes R. Becher und Friedrich Wolf im Gründungsvorstand des SDA einträchtig nebeneinandergesessen hatten. 1948 standen die Zeichen zunehmend auf Konfrontation, der Tonfall in der geistigen Auseinandersetzung wurde aggressiver. So verwarf der SED-Politiker Anton Ackermann den Existentialismus pauschal als „Antihumanismus“ und befand, bei Sartre würden „unverhüllt Züge der faschistischen Dschungelmoral“ hervortreten.
Konflikte dieser Art hatte es schon auf dem ersten (und bis zur Wiedervereinigung letzten) gesamtdeutschen Schriftstellerkongreß gegeben, der 1947 vom SDA in Berlin veranstaltet wurde. Gansel zeichnet die Linie von diesem Kongreß nach, für den Günther Weisenborn das schöne Wort vom „Parlament des Geistes“ fand, über die Installierung von Kontroll- und Zensurorganen im Osten und das taktische Spiel von Abgrenzung und Annäherung in Richtung Westen bis hin zur Formierung eines SED-hörigen Schriftstellerverbandes. Schon relativ früh bemüht sich die SED- Führung darum, einen institutionellen Rahmen zu schaffen, durch den es möglich wäre, die unsichere Klientel der Schriftsteller unter Kuratel zu halten und sie zugleich für die eigenen politischen Zwecke in den Dienst zu stellen. Nacheinander werden die entsprechenden Instrumente geschaffen und die Kontrollwege zur Parteiführung verkürzt. Schließlich wird, um nichts mehr dem Zufall zu überlassen, am SDA vorbei ein eigener Verband gegründet – der Deutsche Schriftstellerverband (DSV, seit 1973 SV der DDR).
Das Geburtsmal, ein Kind der Partei zu sein, haftete dem DDR- Schriftstellerverband – trotz zaghafter Emanzipationsbestrebungen im Lauf seiner Geschichte – bis zu seinem Untergang 1990 an. Hier wehte ein anderer Wind als im SDA: Nicht die berufliche Interessenvertretung stand im Vordergrund, sondern die ideologische Erziehung der Schriftsteller. Wie das im einzelnen vonstatten ging, und wer da wo an welchem Hebel gesessen hat, kann man im ausführlichen Dokumentenanhang des Buchs nachlesen. Diese Unterlagen geben einen Einblick in das geistige Klima, das im Verband geherrscht hat, und in die Arbeitsweise des Apparats: Autoren werden aufgefordert, mit westdeutschen Schriftstellern in Kontakt zu treten, um sie zu agitieren. Von Tagungsbesuchern aus Westdeutschland sollen Charakteristiken erstellt werden. Wenn es um Visa für westliche Autoren geht, spielt sich der Verband als Auskunftsbüro des Außenministeriums auf. Hans Werner Richter etwa soll nach Empfehlung des Verbandes das Visum verweigert werden, da seine Literatur von „kosmopolitischen und antibolschewistischen Tendenzen beherrscht“ werde. Wo es nur ging, verpetzten sich die Funktionäre und Autoren gegenseitig, bei dieser oder jener Gelegenheit einen halben Millimeter von der Linie abgewichen zu sein. Nach den Slansky-Prozessen kursierten gar Listen „imperialistischer Agenten“ im Verband.
Gansel stellt seiner Schilderung des institutionellen Hintergrunds, der Machtgelenke und Entscheidungswege in der DDR-Literatur der ersten Nachkriegsjahre eine profunde Darstellung der ideologisch-programmatischen Entwicklung zur Seite, die für die Nachkriegsliteratur in Ostdeutschland maßgebend war. Analoge Entwicklungen ließen sich für alle Bereiche der Gesellschaft in dieser Zeit dokumentieren – allerorten machten sich Mittelmaß und Inkompetenz breit. Aber dort, wo die Beschreibung der Strukturen aufhört, fangen die Fragen erst an: Wie konnten viele integre Autoren, denen es in ihren Werken an Menschenkenntnis nicht mangelte, diesen Spuk so lange mitmachen? Eine pauschale Antwort gibt es nicht, aber wer künftig in Einzeluntersuchungen diese Frage berührt, wird an Carsten Gansels Buch nicht vorbeikommen.
Wolfgang Emmerich: „Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe“. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1996, 640 Seiten, 45 DM
Carsten Gansel: „Parlament des Geistes. Literatur zwischen Hoffnung und Repression 1945–1961“. Basis Druck, Berlin 1996, 432 Seiten, 32 DM
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