Hoffentlich passiert nichts

■ Nach den Anschlägen geht in Moskauer Bussen und Bahnen die Angst um. Doch zur Metro gibt es für die meisten keine Alternative

Moskau (taz) – Die Zentrale für Anrufe aus der Bevölkerung auf der Moskauer Hauptpolizeiwache „Petrowka 38“ ist nur mit Frauen besetzt. „Männer würden das nervlich nicht aushalten“, kommentierte am Sonntag vor laufender Kamera eine der Mitarbeiterinnen. Bis gestern mittag hatten 164 aufgeregte MoskauerInnen angerufen. Sie glaubten, Hinweise auf die Urheber der beiden Sprengstoffanschläge vom Wochenende oder verdächtige Objekte entdeckt zu haben.

Einige AnruferInnen waren Scherzbolden aufgesessen. Am Sonntag deponierte jemand eine zünderlose Granate auf dem Tresen eines Kiosks im Herzen Moskaus. Nicht ernst zu nehmen ist offenbar auch die Meldung, in der Türkei habe sich ein tschetschenischer Feldkommandeur namens Saltan Ersanow zu den Terroraktionen bekannt. Der Pressesprecher des Tschetschenenführers Selimchan Jandarbijew dementierte die Existenz eines gleichnamigen Kommandeurs.

Übers Wochenende wurden in der russischen Hauptstadt 6.000 Menschen zwecks Überprüfung ihrer Personalien festgenommen, 33 weitere wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Auf dem Wochenmarkt im Moskauer Bezirk Schtschukino empört sich ein junger Händler, dem Äußeren nach eine sogenannte „Person kaukasischer Nationalität“. „Natürlich bin ich außer mir, angesichts all dieser Explosionen“, sagt er. „Nach alledem läßt mich und meinesgleichen keiner hier mehr ruhig Handel treiben. Sie werden alle fünf Minuten unsere Dokumente kontrollieren und Schmiergelder aus uns herausquetschen.“ Wie zur Illustration seiner Worte schreiten zwei Milizionäre die Buden der Zugereisten ab und füllen ihre Einkaufsnetze – unentgeltlich – mit Gurken und Kräutern. Nebenan schimpfen zwei Frauen auf die Regierung: „Jetzt zeigt sich, daß ihr ganzes Gerede von Frieden in Tschetschenien Betrug war. Und wir dürfen die explosive Suppe auslöffeln.“

Nicht nach Gesprächen zumute ist den Leuten in der Metro. Jeder drängelt stumm, so gut er kann. Aber die Ermahnungen zur Wachsamkeit über die Lautsprecher haben Erfolg. Wer jetzt sein Gepäck kurz auf dem Perron stehenläßt, kann sicher sein, daß alle einen großen Bogen darum machen werden. Vorsicht ja, Hysterie nein! So läßt sich die Haltung zusammenfassen. Bei den großen Entfernungen in Moskau haben die meisten sowieso keine Wahl. „Ich wohne fünf Trolleybusstationen von der Metro entfernt“, berichtet ein Mann im Radio. „Natürlich gehe ich jetzt nicht zu Fuß, ich hoffe, daß gerade hier nichts passiert.“ Zum Zeichen des eigenen Fatalismus paraphrasiert er ein Sprichwort: „Ja, wenn ich nur vorher wüßte, wo ich ausrutsche, würde ich an der Stelle Stroh aufschütten.“ Barbara Kerneck