: Der Letzte der Weißen Rose
■ Vor einer Woche starb der Hamburger NS-Widerstandskämpfer Albert Suhr im Alter von 75 Jahren / Sein letztes Interview gab er im Januar
Zu einer Zeit, als in Deutschland Bücher verbrannt wurden, entwickelte sich der Keller der „Buchhandlung am Jungfernstieg“ zu einem geheimen Treffpunkt junger Menschen, die sich nach geistiger Freiheit sehnten. Sie lasen die von den Nazis verbannte Literatur und kopierten verbotene Flugblätter der Geschwister Scholl. Zu dieser Runde, die später als „Hamburger Zweig der Weißen Rose“ bekannt wurde, gehörte auch der Medizinstudent Albert Suhr. Das letzte Mitglied der Widerstandsgruppe starb am 13. Juli in einem Pinneberger Altenheim (taz berichtete). Suhr wurde 75 Jahre alt.
„Durch eine Begegnung mit einem Kriegsinvaliden und durch seinen pazifistisch eingestellten Vater wurde er früh zum Pazifisten. Dies prägte seine entschiedene Gegnerschaft zum Nationalsozialismus“, sagt Anneliese Tuchel, Inhaberin des Buchladens, in dem damals die geheimen Treffs stattfanden. Tuchels Bruder Reinhold Meyer, der im Konzentrationslager Fuhlsbüttel (Kolafu) ums Leben kam, war geistiger Weggefährte und bester Freund Albert Suhrs. Acht der knapp 50 Angehörigen der Hamburger „Weißen Rose“ überlebten die Haft nicht.
Suhr wuchs in der Rentzelstraße auf, besuchte das Wilhelm-Gymnasium und machte 1939 sein Abitur. Er war ein guter Schüler, aber, so Tuchel, „immer ein wenig weltfremd“. Schon früh beeindruckte er im Freundeskreis durch seine Kenntnisse in Philosophie. Dennoch schrieb er sich für das Fach Medizin an der Hamburger Universität ein. Am Krankenhaus Eppendorf lernte Suhr als Famulus Gleichgesinnte wie die Studentin Ursula de Boor kennen.
„Er erörterte mit ihr die hochverräterische Tätigkeit der Geschwister Scholl sowie Feindesnachrichten und sprach sich in scharfer Form für den Pazifismus und gegen die NSDAP, den Krieg, die Wehrmacht und die militärische Zucht aus“, steht in der Anklageschrift des Volksgerichtshofs vom 23. Februar 1945 gegen Suhr. Sein Engagement gegen die Nazis bezahlte Suhr fast mit seinem Leben. Am 13. September 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet, im KZ Fuhlsbüttel saß er die meiste Zeit in Einzelhaft.
Im Oktober 1944 wurde Albert Suhr schließlich mit einem Dutzend Mithäftlingen nach Stendal verlegt, wo der Prozeß vor dem berüchtigten Volksgerichtshof auf sie wartete. Doch Suhr hatte Glück im Unglück: Vier Tage vor Prozeßbeginn befreiten ihn amerikanische Truppen. Albert Suhrs Leben wurde gerettet, seine Gesundheit aber war ruiniert. Folge der Haftbedingungen war unter anderem eine doppelseitige Lungentuberkulose. Die organischen Wunden verheilten, die seelischen nicht. „Die Nazi-Haft hat ihn gebrochen. Er war nicht mehr der Mensch, den ich von meinem sechsten Lebensjahr an kannte“, erinnert sich Anneliese Tuchel.
Suhr schloß sein Studium ab, promovierte und eröffnete eine Praxis in Eimsbüttel. Doch der berufliche Erfolg des, so Tuchel, „leidenschaftlichen und ungewöhnlich begabten Arztes“ war zunächst nur von kurzer Dauer: Bei Abtreibungen in seiner Praxis starben 1961 und 1963 zwei Patientinnen. Obwohl der vom Gericht bestellte Gutachter bestätigte, daß die Frauen auch ohne die Eingriffe gestorben wären, wurde Suhr zu 15 Monaten Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Weil er zum Zeitpunkt des Verstoßes gegen den Paragraphen 218 morphiumabhängig war, erfolgte die Einweisung in die Psychiatrie nach Alsterdorf. Nach drei Jahren wurde Suhr voll rehabilitiert und arbeitete wieder als Arzt in Reha-Kliniken in Werratal, Köln, Bremen und Nienburg an der Weser bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1992.
Heute vor einer Woche überraschte der Tod Albert Suhr beim Mittagsschlaf. Dieses sanfte Ende hätten sich seine acht gewaltsam zu Tode gequälten Mitstreiter der Hamburger „Weißen Rose“ sicherlich gewünscht. Volker Stahl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen