: „Allein auf mich hoffe ich noch“
Die Rede vom Wetter und von den Haustieren verbirgt ein nervenzerfetzendes Drama mit tödlichem Ausgang: Die Briefe, die der Schriftsteller Isaak Babel von 1925 bis 1939 aus der Sowjetunion an seine exilierte Familie schrieb ■ Von Michael Bienert
Als Isaak Babel 1940 Stalins Staatsterror zum Opfer fiel, ging fast alles verloren, was er in den letzten Lebensjahren geschrieben hatte. Unter den beschlagnahmten Papieren befanden sich umfangreiche Studien zum Leben in der Sowjetunion während der Zwangskollektivierung, die damals keine Chance hatten, veröffentlicht zu werden. Von Babels riesiger Korrespondenz wurde ebenfalls das meiste vernichtet. Freunde und Bekannte verbrannten seine Briefe, damit sie nicht als belastendes Material gegen sie verwendet werden konnten.
Zur gleichen Zeit vernichtete Babels in Paris lebende erste Frau die an sie adressierte Korrespondenz. Nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht war es allzu riskant, Briefe eines Autors zu besitzen, dessen Bücher 1933 von den Nazis öffentlich verbrannt worden waren. Babels Nachlaß wurde zwischen den Mühlsteinen zweier Diktaturen zerrieben. Das gibt dem wenigen, was davon übriggeblieben ist, ein besonderes Gewicht.
427 Briefe Babels an seine Mitte der zwanziger Jahre nach Brüssel exilierte Mutter und Schwester liegen nun auf deutsch vor – die erste vollständige Edition überhaupt. Ein leichtes Vergnügen ist ihre Lektüre nicht. Die hastig heruntergeschriebenen Briefe müssen zwischen den Zeilen gelesen werden, bei ständigem Hin- und Herblättern zwischen der angehängten Lebenschronik und dem umfangreichen, aber längst nicht alle Fragen beantwortenden Kommentar des Übersetzers Gerhard Hacker.
Von Geld- und Familienangelegenheiten ist in den Briefen viel die Rede, von der Gesundheit und vom Wetter. Babel hatte doppelt Rücksicht zu nehmen: auf die sowjetische Postzensur ebenso wie auf die Nerven seiner exilierten Angehörigen, die in ständiger Sorge um ihr Auskommen und das Schicksal der in der Sowjetunion verbliebenen Verwandten lebten. Man muß die Briefe erst dechiffrieren, um sie als das zu lesen, was sie sind: Dokumente eines nervenzerfetzenden Dramas, das für ihren Verfasser tödlich endete.
Babels Lebenssituation im nachrevolutionären Rußland war privilegiert wie prekär. Der große Erfolg seiner „Reiterarmee“, der Erzählungen aus dem russisch-polnischen Krieg, hatte ihn Mitte der zwanziger Jahre im In- und Ausland berühmt gemacht. Er verdiente viel Geld mit dem Schreiben von Szenarien für die sowjetische Kinoindustrie: Geld, das er mit Hilfe seiner guten Beziehungen größtenteils an seine jüdische Verwandtschaft in Odessa und im westlichen Ausland transferierte. Vor allem lag Babel das Wohlergehen seiner „einzigen, wahren, steten und unauslöschlichen Liebe“ am Herzen – das Schicksal seiner Mutter, die er ermahnt, sich etwas Luxus, Reisen, ein Auto zu gönnen: „Mein Leben wird viel leichter, viel fröhlicher sein, wenn ich weiß, daß Du Dir das Nötige nicht versagst, daß Du Deinen erzwungenen ,Kuraufenthalt‘ nicht wie eine jüdische Bettlerin, sondern wie eine Dame mit einem Federchen auf dem Hut verbringst.“
Blieb die Post von Mutter und Schwester aus, oder kamen schlechte Nachrichten, so litt Babel unter Schlaflosigkeit und konnte kaum arbeiten. Dann brach der Konflikt auf, der ihn zu zerreißen drohte: Einerseits sehnte er sich nach dem Zusammenleben mit seiner Familie, andererseits konnte er aus Rußland nicht weg. „Hier ist es ärmlich, in vielerlei Hinsicht traurig, aber das ist mein Material, meine Sprache, das sind meine Interessen“, rechtfertigte er sich vor der Mutter. Er wußte, daß er als Schriftsteller verkümmern würde, wenn er wegginge.
Die Familie und Rußland waren zwei lebensnotwendige Pole für Babel, und die Entscheidung für den zweiten Pol war nur erträglich, sofern er mit dem ersten in Verbindung blieb: daher der intensive Briefverkehr, der sich bisweilen zur „Graphomanie“ steigerte. Drohte diese symbolische Nabelschnur zur Mutter unterbrochen zu werden, ging es Babel schlecht. Es bereitete ihm bereits „unerträgliche Sorgen“, wenn er auf Studienreisen durch die Dörfer, Bergwerke und Kollektive Rußlands ging und nicht wußte, wo er Post aus Brüssel vorfinden würde.
Noch komplizierter wurde die fragile Lebenskonstruktion dadurch, daß Babels Beziehung zu jedem der beiden Pole in sich ambivalent war. Als seine erste Frau 1929 in Paris eine Tochter zur Welt bringt – Babel bekommt das Kind erst mit dreieinhalb Jahren zu Gesicht –, schreibt er der frischgebackenen Oma: „Stopfst Du Deiner Enkelin auch den dreckigen Schnuller wieder in den Mund, wie Du das [...] mit Deinem Sohn gemacht hast? Mümmelst Du denn für sie in Deinem zahnlosen Mund einen altbackenen Sesamkringel und gibst ihn ihr dann, vollgesabbert wie er ist, zu essen, wie Du das vor Zeiten mit Deinem Sohn gemacht hast, der Dir das nimmermehr vergeben wird? Und außerdem – Du hast an meinen Windeln gespart. Du hast mir keinen Apfelsinensaft gegeben, in der Wiege hast Du Deinen Sohn geschaukelt und seine Eigeninitiative damit abgetötet, und wenn das, was ich zusammenschmiere, nichts taugt, dann weiß ich schon, wem ich die Schuld dafür zu geben habe [...].“
So sehr sich Babel über die Trennung von der Mutter beklagt, die Chancen zur Emigration, die sich ihm boten, hat er nie genutzt. Anfang der dreißiger Jahre versuchte er, Mutter und Schwester zur Heimkehr zu bewegen, indem er ihnen die spürbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen in der Sowjetunion schilderte. Einen weiteren Grund für sein Bleiben verschwieg er der Mutter: Er lebte in Moskau mit seiner zweiten Frau zusammen.
Die brutale Modernisierung der Gesellschaft unter Stalin (dessen Name in den Briefen nicht ein einziges Mal fällt) beobachtete Babel mit Faszination und Erschrecken. Als er im Herbst 1935 in die Ukraine reist und die Schulen, Krankenhäuser und Kinos auf den Dörfern sieht, spricht er von einem „Wunder“. In Odessa aber, seiner Heimatstadt, angekommen, ist er froh, sie immer noch arm, provinziell und „wunderschön“ vorzufinden – weil sie glücklicherweise „nicht im Plan steht“.
Über Babels politischen Standort, seine Rolle in der Sowjetliteratur ist viel gerätselt worden. In seiner Familienkorrespondenz äußert sich Babel nur selten über den damaligen Literaturbetrieb und sein eigenes Schreiben, dann aber in unmißverständlicher Deutlichkeit. „Wir schuften in einem abscheulichen Berufsmilieu, bar jeglicher Kunst und Schaffensfreiheit“, klagt er schon 1925. „Unsere Belletristen schreiben sehr schlecht, und man weiß nicht, was man auswählen soll [...]. Allein auf mich hoffe ich noch“, heißt es 1931. Dabei verließ sich Babel ganz auf sein eigenes Urteil, unbestochen durch seine Popularität bei den russischen Lesern. Als ein russischer Sammelband mit Aufsätzen über ihn erschien, hatte er dafür nur Spott übrig: „Es liest sich sehr drollig, man begreift kein Wort, da haben sehr gelehrte Holzköpfe geschrieben.“
Gegen die sowjetische Propaganda blieb Babel immun. Er stimmte mit der offiziellen Kulturpolitik einzig in dem einen Punkt überein, daß es die Aufgabe des Schriftstellers sei, die historische Umwälzung in der Sowjetunion zu schildern. Das konnte für ihn nur heißen: „anders als all die anderen“ zu schreiben. Die anderen, das waren die Schriftsteller, die Versatzstücke der Wirklichkeit im Sinne der Parteidoktrin zusammenbauten. Babel aber mußte, um etwas zu Papier zu bringen, mitfühlender Augenzeuge sein. Was er dann aus dem Gedächtnis niederschrieb, redigierte er unendlich oft, bis es seinem Wahrheitsempfinden entsprach.
Babel schrieb am liebsten auf dem Lande, abgeschottet vom Moskauer Literaturbetrieb. Umgeben von Bauern, Kühen und Pferden verfolgte er seine „geheimen Pläne“. Ein Urteil über die Ergebnisse traute er allein der „Nachwelt“ zu. Was er noch veröffentlichen konnte, schätzte er nicht hoch ein. Trotzdem zog er sich nicht ganz aus dem Literaturbetrieb zurück, sondern kämpfte um Spielräume für sich und andere. Denn Babel liebte es, den Weg des größten Widerstandes zu gehen: „Ich bin aus einem Teig gemacht, der aus Geduld und Dickköpfigkeit besteht, und wenn diese zwei Eigenschaften aufs äußerste gefordert werden, erst dann spüre ich la joie de vivre [...].“
Mit Maxim Gorkis Tod im Sommer 1936 verlor Babel seinen wichtigsten Mentor, der ihn oft gegen Angriffe in Schutz genommen hatte. Aufforderungen an die Familie, nach Rußland heimzukehren, findet man danach in Babels Briefen nicht mehr. Ein bleiernes Schweigen liegt hinter den Zeilen. Babel bemüht sich, der Mutter Normalität vorzutäuschen. Im Februar 1939 berichtet er, daß er seine Datscha in Peredelkino zu einem „Haus, das die Jahre überdauern kann“, ausbauen läßt: „Zwar sind die Nachbarn weit weg, aber ich will mir ringsherum einen dichten Zaun ziehen lassen. Meine Tauben sind unversehrt; meine Haushaltshilfe hat eine neue Kuh gekauft. Das wären die ganzen Dorfneuigkeiten.“
Die Idylle, in der sich Babel einmauerte, dauerte nicht lang. Einige Wochen später fuhr das Auto vor, das ihn zum Verhör in die Lubjanka brachte. Beim Einsteigen sagte Babel zu seiner Frau: „Am schlimmsten ist, daß meine Mutter jetzt keine Briefe mehr von mir bekommt.“
Isaak Babel: „Briefe 1925–1939“. Übersetzt und kommentiert von Gerhard Hacker. Mit Register und 12 Abb., 440 Seiten, geb., Verlag Johannes Lang, 58 DM
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