Von der KPdSU in die Moschee

Die Regierung der zentralasiatischen GUS-Republik Usbekistan hat den offiziellen Islam domestiziert – nach sowjetischem Vorbild  ■ Aus Taschkent Thomas Ruttig

Allahu akbar“, tönt es vom Minarett der Großen Moschee von Buchara, „halla al-thalat!“ Es ist Samstagmorgen, und dem per Lautsprecher abgespielten Ruf des Muezzin „Allah ist groß, auf zum Gebet“ folgen nur wenige Menschen. Die meisten sind Schüler der gegenüber gelegenen Medresse Mir-e Arab. Einige springen die Stufen hoch, andere schlurfen unausgeschlafen über den staubigen Vorplatz und verschwinden dann hinter dem geschnitzten Eingangstor. Auch ein paar Externe kommen, einer schultert sein Fahrrad und deponiert es im Inneren des heiligen Ortes.

Auch sonst wirken die Jungen zwischen 14 und 18 Jahren fast wie Jugendliche in Berlin oder Dortmund. Viele tragen Jeans, Turnschuhe und Windjacken. Doch die hochaufragenden, leuchtend blau gefliesten Giebeltore von Moschee und Medresse sowie die Gesichter der Jungen und ihre Tjubeteikas – die viereckigen, buntbestickten tadschikischen Hinterkopfkappen – erinnern daran, daß man sich in Mittelasien befindet. In der Medresse, einer höheren Koranschule etwa im Range eines Gymnasiums, lernen sie die arabische Sprache und Geschichte, lesen den Koran und die Hadithe, die Überlieferungen des Propheten Muhammad, und pauken Grundlagen der Scharia, des islamischen Rechts.

Die Mir-e Arab ist nicht irgendeine Lehreinrichtung in der Provinz. Gegründet wurde sie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts während einer der ersten Usbeken-Dynastien, die das einstige Zentrum der Nachfolger von Timur dem Lahmen zu einer neuen Blüte führten. Damals war Buchara-ye Scharif, das edle Buchara, nach Mekka die zweitwichtigste Stadt der islamischen Welt und das Zentrum der Kunst und Wissenschaft.

Mit der Einverleibung des Emirats Buchara in das zaristische russische Reich begann dessen Niedergang, der auch die Medresse nicht verschonte. Der Tiefpunkt kam zu sowjetischer Zeit, als die Mir-e Arab zu einer der zwei Alibi- Medressen in der gesamten Sowjetunion herabsank. Ganze 16 Imam-Schüler wurden hier noch ausgebildet.

Früher studierten hier 16 Imam-Schüler, heute 340

Heute bevölkern wieder 340 Taliban die Unterrichtsräume. Sie kommen nicht nur aus Usbekistan, dem Buchara zu Stalins Zeiten zugeschlagen wurde, sondern auch aus den benachbarten ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Zellen des doppelstöckig umbauten Hofes sind voll belegt.

Dschamal kommt aus Tadschikistan und ist seit fast zwei Jahren Schüler an der berühmten Medresse. Nach dem zweiten Morgengebet hat er etwas Zeit bis zum Unterricht. Der 15jährige mit dem breiten, offenen Gesicht will nach dem vierjährigen Studium in Buchara vielleicht eines der heißbegehrten Auslandsstipendien ergattern. Hinterher möchte er ganz unten in der losen sunnitischen Hierarchie beginnen, als Imam-Khatib, Gehilfe des Moscheevorstehers, am liebsten in seiner Heimat.

Längst hat sich auf den Stufen vor der Moschee eine Runde gebildet. Ahmad, der aus Buchara kommt, ist der kleinste von allen. Er sieht aus wie 10, besteht aber darauf, 14 zu sein. Die meisten anderen sind Usbeken, auch ein paar Kirgisen und Uighuren sind darunter.

Saifullah lehrt im Anfängerkurs an der Mir-e Arab arabische Grammatik und Koranlesen. Der schmale 22jährige ist weniger bunt gekleidet als seine Schüler und achtet auf gemessenes Verhalten, auch wenn er nicht viel älter aussieht als sie. Saifullah ist ebenfalls Tadschike und stammt aus Buchara. Von seinem Lehrergehalt allein kann er sich nicht ernähren. Also betreibt er nebenbei ein „Business“, wie er sagt, verkauft kleine Dinge des täglichen Bedarfs.

Saifullah hat zwei Jahre in Saudi-Arabien studiert. Aus Riad hatte er ein Stipendium erhalten. Der Lebensstandard im Reich des Erdöls hat ihn stark beeindruckt. Seine Heimat kann er sich deshalb durchaus als islamischen Staat nach saudischem Muster vorstellen. Saifullah beklagt, daß viele seiner usbekischen Landsleute die Religion vergessen haben oder nur lax ausüben. Er selbst trinkt und raucht nicht und blickt erstaunt auf, als einer der Bauarbeiter um Feuer bittet.

Bald wolle er heiraten, erzählt Saifullah. Seine Frau müsse sich dann verschleiern. Er deutet mit Gesten an, daß ihr Haaransatz und ihre Arme bis zu den Handgelenken bedeckt sein sollen. Diese Kleidung ist heute nicht sehr verbreitet in Usbekistan. Die meisten Frauen tragen Kleider aus den buntgestreiften tadschikischen Seidenstoffen und – mehr gegen die Sonne denn aus religiösen Gründen – ein glitzerndes Kopftuch. In den Städten sieht man viel häufiger Miniröcke und Hosenanzüge aus gewagt halbdurchsichtigen Stoffen als orthodoxe Verschleierungen. Niemand scheint öffentlich daran Anstoß zu nehmen.

Auch arbeiten müsse seine Frau dann nicht, erzählt Saifullah weiter. Das sei im Islam „so festgelegt“. Er sieht keinen Anlaß, etwa persönliche Beweggründe hinzuzufügen.

Außerhalb der Gotteshäuser hat die usbekische Regierung jegliche Missionierung untersagt. Was von einigen Menschenrechtsorganisationen und Kirchen in Europa als Verstoß gegen die Religionsfreiheit verstanden und kritisiert wird, richtet sich in Wirklichkeit nicht gegen das breite Spektrum der Neuankömmlinge, von den Baptisten bis zu den Hare- Krischna-Leuten. Vor allem sind die radikalen islamischen Bewegungen etwa aus Saudi-Arabien oder Pakistan gemeint. „Wenn wir den Christen zu missionieren erlaubten, würden die sofort das gleiche Recht einfordern“, meint ein Staatsfunktionär in Taschkent. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren Islamisten aus diesen Staaten euphorisch, aber in Verkennung der Tatsachen in ihre vermeintlichen muslimischen Bruderstaaten in Mittelasien gedrängt, sehr zum Mißfallen der Regierung. Heute sind bestenfalls noch Spenden zum Aufbau der vielen mittelalterlichen Moscheen gefragt. Die Islamische Universität, die in Usbekistans Hauptstadt Taschkent entstehen soll, wird mit Hilfe des stärker säkularisierten Ägypten gebaut. Präsident Husni Mubarak soll noch in diesem Sommer den Grundstein dafür legen. Die etablierte Geistlichkeit und die Staatsführung haben schnell gemeinsame Interessen entwickelt.

Mufti Muchtordschon Abdullajew bestätigt das auf seine Weise. Das Oberhaupt der Muslime der 21-Millionen-Republik residiert in der Barakchana, einer traditionsreichen Medresse in der orientalischen Altstadt Taschkents. „Die Mehrheit der Söhne unserer Heimat sind, wenn sie auch in die Kommunistische Partei eintraten, in ihrer Seele wahre Patrioten geblieben“, erteilt der 67jährige ihnen die offizielle Absolution. Dann wird der Geistliche mit dem weißen Turban und dem buntgestreiften Kaftan konkreter und lobt Staatspräsident Islam Karimow in den höchsten Tönen: „Wir danken Allah, daß er dem usbekischen Volk, allen Völkern Usbekistans einen solch weisen Führer wie unseren derzeitigen Präsidenten geschenkt hat, der sehr weitsichtig und vernünftig handelt und das Land auf den richtigen Weg führt.“ Er hebt hervor, daß Karimow den Muslimen alle Moscheen und Medressen kostenlos zurückgegeben habe und zu seiner Regierungszeit der Heilige Koran erstmals ins Usbekische übersetzt worden sei.

Staat und Geistlichkeit bilden eine Symbiose

Die Machthaber in Taschkent und ihre Vertreter in den Provinzen und Kreisen verfügen über langjährige Erfahrungen bei der Domestizierung des Islam. Politisch groß geworden sind die meisten von ihnen in der örtlichen KPdSU- Hierarchie; die Umetikettierung in „national denkende Technokraten“ gelang ihnen leicht. Die Symbiose von Staat – früher: Partei – und Geistlichkeit kennen sie bereits aus Sowjetzeiten. Damals erhielten, wiederum als Rückgriff auf eine zaristische Einrichtung, hohe Geistliche Amt und Würden, Gehälter und repräsentative Auslandsreisen. Sie wurden faktisch zu Staatsangestellten. Dafür zahlten sie mit Loyalität gegenüber dem sozialistischen Regime.

Eines der sogenannten Muftiyate, zuständig für die „Muslime Mittelasiens“, hatte seinen Sitz in Taschkent. Sein Chef Schamsuddin Chan Babachan, der dieses Amt seinerseits von seinem Vater geerbt hatte, wurde zu Perestroika-Zeiten 1988 von der gläubigen Basis davongejagt. 1992 gab er noch einmal ein kurzes Zwischenspiel, ein Jahr später übernahm Abdullajew das Amt. Nicht zufällig: Obwohl er die Unterdrückung des Islam in der Sowjetunion in finstersten Farben ausmalt („siebzig Jahre lang lebten wir in Dunkelheit, man hielt uns taubstumm und unmündig“), gehörte er selbst zu den wenigen Privilegierten, die zu sowjetischen Zeiten die Medresse Mir-e Arab in Buchara besuchen und anschließend sogar im Ausland – an der theologischen Fakultät der Universität von Damaskus, beim Verbündeten Syrien – studieren durfte.

Es gibt allerdings nur wenige Usbeken, die seine staatsnahe Position kritisieren würden. Die meisten Einwohner Usbekistans sind sehr zufrieden mit ihrem derzeitigen Leben. Nicht nur in der Hauptstadt Taschkent und den Touristenzentren Buchara und Samarkand, sondern auch in den kleineren Städten gibt es faktisch alles und zu einigermaßen erschwinglichen Preisen zu kaufen. Handel und Wandel blühen, halb Usbekistan scheint im kleinen und mittleren Business Fuß gefaßt zu haben. Imbißstuben wechseln mit Läden und Marktständen. Selbst auf dem flachen Lande haben allerorten die Vorboten westlicher Zivilisation Wurzeln geschlagen: Coca-Cola- Sonnenschirme und Snickers-Reklame. Jenseits der durchlässigen Grenzen in den ehemaligen Bruderrepubliken Kirgistan, Kasachstan oder Tadschikistan sehen die Usbeken, daß es der dortigen Bevölkerung weitaus schlechter geht als ihnen.

Wer allerdings dem Mufti, und damit indirekt dem Präsidenten, widersprechen wollte, hätte schlechte Karten. Die Führer der Oppositionsparteien Birlik und Erk haben das erfahren müssen. Sie leben längst in Istanbul, Moskau oder Westeuropa. Im Lande gebliebene Aktivisten bekommen hin und wieder Besuch von Schlägertrupps, denen man natürlich nicht nachweisen kann, daß sie im Regierungsauftrag handeln. Die lokale Branche der im Juni 1990 noch sowjetunionweit gegründeten „Partei der Islamischen Wiedergeburt“ ist längst verboten, ihre Anführer wurden schnell verhaftet und gelten seitdem als „verschwunden“.

Ähnlich geht es nichtregimekonformen Mullahs. Der Imam einer Moschee in der Stadt Namangan im als rebellisch geltenden Ferghana-Tal wurde Ende vergangenen Jahres letztmals auf dem Flughafen Taschkent gesehen. Die Regierung des Landes bestritt offiziell, irgend etwas über seinen Verbleib zu wissen.

Mufti Abdullajew hat für den Fall seine eigene Begründung. Erneut ohne Namen zu nennen erklärt er auf die Frage nach dem Verschwundenen, das Muftiyat habe den Imam nach einer von der örtlichen Bevölkerung geforderten Revision abgesetzt, „wie es unser Statut vorschreibt“. Außerdem, so Abdullajew, habe sich Abdulwali seine islamische Bildung „zu Hause allein“ angeeignet, und die sei deshalb „einseitig“ ausgefallen.

Offensichtlich gehörte der Verschwundene zu den sogenannten informellen Geistlichen, die während der Sowjetzeit im Untergrund aus den Erinnerungen der Alten und wenigen erhalten gebliebenen Büchern die islamische Religion am Leben erhielten – oft ohne die essentielle Kenntnis der arabischen Sprache. Wenn es ihnen auch an der „Wissenschaftlichkeit“ ihrer Kenntnisse des Islam mangelt, wie der Mufti es nannte, verfügen sie doch über eine Eigenschaft, die dem politischen wie religiösen Establishment Usbekistans Furcht einjagt: die Erfahrung einer Kultur des Widerstands.