: „Der türkische Staat ist der Mörder“
Verzweifelte Angehörige der Hungerstreikenden demonstrieren vor dem Justizpalast. Menschenrechtsverein und türkische Presse fordern die Regierung zu schnellem Handeln auf ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
Über dem Eingang des Justizpalastes in der Istanbuler Altstadt weht eine große türkische Flagge. Rucksacktouristen verirren sich zwischen den Ketten, die mehrere Hundertschaften Polizei um das Justizgebäude gebildet haben. Die Stimmen von rund tausend Menschen, die draußen auf der Straße stehen, schallen durch das Gebäude: „Der türkische Staat ist der Mörder – die Menschenwürde wird die Folter besiegen.“ Ein kleiner, in Schweiß gebadeter Mann irrt, begleitet von Fernsehkameras, durch die Gänge des Justizgebäudes. Ercan Kanar, der Vorsitzende des Istanbuler Menschenrechtsvereins, hat eine Verabredung mit dem Oberstaatsanwalt. Er will eine Petition überreichen. Eine Aufforderung an die Behörden, schnell zu handeln, damit nicht weitere Hungerstreikende in den Gefängnissen sterben. Der Oberstaatsanwalt hat sich aus dem Staub gemacht. Der Stellvertreter will die Petition nicht entgegennehmen. Er sei nicht „befugt“. Nach langem Suchen findet sich eine Sekretärin, die ihr Make-up beendet hat und sich gerade Tee servieren läßt, die die Petition entgegennimmt.
Verzweiflung zeichnet die Gesichter der Menschen, die vor dem Justizgebäude ausharren. Die Mutter eines Hungerstreikenden läßt die Sprechchöre verstummen: „Unsere Kinder sterben. Wir können ihnen noch nicht einmal ein Glas Wasser reichen.“ Die Nachricht von weiteren Toten trifft ein. Ali Ayata ist im Gefängnis Bursa gestorben, Hüseyin Demircioglu im Gefängnis Ankara, Müjdat Yanat im Gefängnis Aydin. Drei Tote am 67. Tag des Hungerstreiks. Sechs Tote innerhalb von fünf Tagen. Niemand weiß, wer der nächste unter den über 1.500 hungerstreikenden Gefangenen sein wird. Viele liegen im Koma.
„Der Justizminister ist blind und taub. Die Gefangenen stellen doch keine Forderungen, die unerfüllbar sind. Sie fordern ihre natürlichsten Rechte“, sagt Ercan Kanar. Immer wieder wird er von Sprechchören unterbrochen. „Justizminister Kazan, tritt zurück!“ „Der Staat ist der Mörder!“ Die symbolische Protestaktion vor dem Justizgebäude nimmt ein glimpfliches Ende. Die Polizei verzichtet darauf, Knüppel einzusetzen und Massenfestnahmen durchzuführen – bislang Regelfall, wenn Familienangehörige versuchen, ihren Protest gegen die unnachgiebige Haltung der Regierung kundzutun. – Nach sechs Toten ist der Aufruhr nicht zu stoppen. Zeitungen werden hochgehalten. „Sagen wir halt zu den Morden“, titelt die linke Tageszeitung Evrensel. „Stoppt das Sterben!“ fordert Cumhuriyet (Die Republik). „Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, lautet die Schlagzeile in der liberalen Yeni Yüzyil (Neues Jahrhundert). „Habt ihr immer noch nicht genug?“ fragt Demokrasi (Demokratie) die Regierung. Selbst die Massenblätter, die stets auf seiten des Staates am Propagandafeldzug gegen „linksextreme, illegale Organisationen“ teilnehmen, haben die Solidarität mit der Regierung aufgekündigt. „Die Schande des Staates“, titelt Milliyet (Die Nation) und beschuldigt die Regierung der Untätigkeit gegenüber den Sterbenden. Doch anstatt auf die Forderungen der Gefangenen nach menschenwürdigem Strafvollzug einzugehen, droht Justizminister Sevket Kazan von der islamistischen Wohlfahrtspartei mit weiteren Verschärfungen des Strafvollzugs, falls der Hungerstreik nicht doch beendet wird.
Während verzweifelte Mütter vor dem Justizgebäude in Tränen ausbrechen, veranstaltet Ministerpräsident Necmettin Erbakan zeitgleich in Istanbul eine Politshow, die die Wohnungskooperative der islamistischen Stadtverwaltung feiert. Er wird kein Wort über die Toten verlieren.
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