„Ich habe mich ganz reduziert“

■ Der Menschenrechtsaktivist Harry Wu über sein Leben im chinesischen Gulag und die Zeit im amerikanischen Exil

taz: Wenn Sie an Ihre Jugend denken, entsinnen Sie sich da eines jungen Kommunisten namens Harry Wu? Und wann haben Sie zu zweifeln angefangen?

Harry Wu: Ich bin nie Kommunist gewesen!

Haben Sie nie kommunistische Lieder gesungen?

Ich habe wohl diese Lieder mitgesungen, doch ich war nie ein Kommunist.

Sie sind für einen großen Teil Ihres Lebens in Arbeitslagern gefangen gewesen.

Ich habe 19 Jahre im chinesischen Gulag verbracht. Nachdem ich am 27. April des Jahres 1960 in Peking verhaftet worden war, weil ich 1956 den Einmarsch der Sowjets in Ungarn kritisiert hatte und auf der Einhaltung der Menschenrechte in China bestand, habe ich mehr als zwölf Arbeitsumerziehungslager durchlaufen müssen. Ich galt als Konterrevolutionär.

Arbeitsumerziehungslager, was bedeutet das?

Sklavenarbeit, 14 Stunden am Tag.

Was waren das für Arbeiten?

Das hing von der Art des Lagers ab: Wenn es eine Kohlengrube war, dann förderten wir Kohle, wir arbeiteten in der Landwirtschaft, wir haben Eisenbahntrassen gelegt, Erze gefördert, in Fabriken chemische Produkte hergestellt. Die Lager haben sich selbst versorgen müssen.

Wie viele Häftlinge lebten in einem Lager?

Das war ganz unterschiedlich, von den zwölf Arbeitsumerziehungslagern waren einige mit 60.000 Insassen sehr groß, andere klein, mit etwa 2.000 Häftlingen.

Wie kann man solche großen Lager überhaupt kontrollieren?

Es gab viele Wachen, doch sehr viel weniger als in den deutschen Konzentrationslagern oder in den sowjetischen Gulags. Sie haben meist Häftlinge zur Bewachung ihrer Mitgefangenen eingesetzt.

Was war das Schlimmste in den Lagern – das Klima des Schreckens?

Furcht ist das eine Problem gewesen, das andere war die Umerziehung, die Gehirnwäsche.

Wie muß ich mir das vorstellen?

Es ging ihnen darum, die Menschenwürde zu zerstören...

Mittels Gewalt?

Durch physische Gewalt und durch seelische Folter, mittels psychologischer Maßnahmen. Man lernt sich selbst als Kriminellen zu sehen, man wird angehalten, zu bereuen. Man muß mit seiner Umerziehung einverstanden sein, man wird von der eigenen Familie, der eigenen Frau, den eigenen Eltern denunziert. Man fühlt sich völlig isoliert. Man fragt sich, wenn meine Verwandten mich kritisieren, bin ich dann nicht im Unrecht? Die Mehrheit folgt den Kommunisten, vielleicht haben sie recht. So wird man seelisch zerstört.

Mußten Sie Angst um Ihre Familie haben, wurde sie schikaniert?

Meine Mutter hat sich umgebracht, als sie von meinem Arrest erfuhr. Mein Vater ist gefoltert worden, er starb daran, mein jüngster Bruder wurde gleichfalls umgebracht.

Wie haben Sie es geschafft, die Lager zu überleben?

Ich habe aufgegeben. Ich habe mit der Polizei kollaboriert. Bin dann begnadigt worden, ich habe mich zum Tier gemacht, ganz reduziert. Man konnte sich dort nicht als Mensch verstehen. Was macht den Menschen aus? Menschsein, das heißt doch, eine Zukunft, Freiheit, Liebe, Sex, eine Familie haben. Von diesen Dingen darf man dort nicht einmal träumen, sonst scheitert man und wird am Ende wieder gefoltert.

1985 sind Sie entlassen worden und in die USA emigriert. Von dort aus beschäftigen Sie sich weiterhin mit der Menschenrechtslage in China. Sie sind sogar mehrmals wieder unter Gefahr für Leib und Leben in ihre Heimat zurückgegangen, um zu recherchieren. Woher nehmen Sie diesen Wagemut?

Ich habe wirklich versucht, das Vergangene zu vergessen. In Kalifornien habe ich ein neues Leben anfangen wollen. Ich bin mir bewußt, daß mir nicht viele Jahre bleiben. Ich habe eine neue Seite aufzuschlagen versucht. Aber ich konnte nicht. Der Alptraum hat mich nicht losgelassen. Ich kann meinem Volk doch nicht den Rücken kehren. Ich habe Glück gehabt, ich habe überlebt. Hätte ich ein Geschäft aufmachen sollen? Zwanzig Jahre lang habe ich nicht eine Dollarnote in der Hand gehabt, was soll mir also Geld. Sie müssen wissen, viele Menschen, die viel klüger gewesen sind als ich, haben nicht überlebt. Ich habe einfach Glück gehabt. Und nun nichts zu sagen, wie soll das möglich sein? Wenn ich nicht immer wieder hingehe, wer wird dann gehen?

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Wu. Interview: Jochanan Shelliem