: Freiheit rund um die Uhr
Ein Tag mit dem EDV-Kaufmann und Behinderten-Funktionär Clemens Reichow und seinem persönlichen Assistenten ■ Von Knut Henkel
Es ist 6.30 Uhr. Der Wecker klingelt in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung in Lurup. Clemens Reichow liegt im Bett und stöhnt noch einmal wohlig in die Kissen. Die Sonne lugt bereits zum Fenster herein, Kaffee duftet, der Tag kann beginnen. Assistent Holger Miehe schiebt die beiden Tragegurte unter dem Körper des Schwerbehinderten hindurch, befestigt sie am Lifter und langsam geht es aufwärts dann seitwärts und wieder abwärts bis der 41jährige Clemens im Rollstuhl sitzt. „Puh – geschafft, jetzt erstmal Kaffee.“ Holger holt ihn aus der Küche und hält Clemens den Becher an die Lippen.
Anschließend: Zähneputzen, Waschen, Haarekämmen, alles so wie jeden Morgen – ganz in Ruhe. Doch wie lange das noch so ist, steht in den Sternen. Das neue Abrechnungssystem anhand von Leistungsmodulen sieht seit dem 1. Juli ganze 25 Minuten für die Morgentoilette vor – inklusive Aufstehen und Ankleiden. Allein zum Aufstehen brauchen Clemens und Holger so um die zehn Minuten, bleiben 15 Minuten für Zähneputzen, Waschen, Kämmen, Rasieren und Anziehen. Zu knapp bemessen, obwohl das Rasieren entfällt, Clemens trägt Bart. Nicht anders sieht es beim Frühstück aus: „Sieben Minuten haben wir nach den neuen Richtlinien jetzt dafür Zeit: für die Zubereitung, den Verzehr, das Spülen des Geschirrs und die Reinigung des Frühstückstisches. Für uns zeitlich nicht zu schaffen,“ sagt Holger, der seit eineinhalb Jahren in Clemens' AssistentInnenteam ist. Seit seinem Zivildienst arbeitet Holger nun schon mehr als zehn Jahre in verschiedenen Pflegediensten. Sieben AssistentInnen hat Clemens, der wegen einer Keimblattschädigung von Geburt an schwerbehindert ist. Die Helfer, die ihm 24 Stunden am Tag zur Seite stehen, hat Clemens sich selbst ausgesucht, denn „wir müssen ja auch zueinander passen“, sagt er.
Angestellt sind seine AssistentInnen bei der Hamburger Assistenzgenossenschaft (HAG), bei der auch Clemens Genosse ist. Einzigartig findet er den individuellen Service und die Mitbestimmungsmöglichkeiten. Außer den Dienstplänen der AssistentInnen organisiert die HAG auch die Abrechnung mit den Trägern.
Seit dem Aufstehen ist eine gute Stunde vergangen. Clemens ist fertig: Es kann losgehen. Nachdem alle Gurte sitzen und der Rollstuhl fixiert ist, gibt Holger vorsichtig Gas. „Schön langsam bitte, ich spüre jedes Schlagloch hier hinten. Die Stoßdämpfer haben ihre besten Tage bereits hinter sich.“ Ziel ist das Bezirksamt Wandsbek, wo der gelernte Datenverarbeitungskaufmann seit zwölf Jahren arbeitet. Anfangs kontrollierte Clemens Adressen auf Lochkarten, seit rund zehn Jahren ist er Vertrauensmann der Schwerbehinderten in Wandsbek.
Clemens' Büro liegt im Erdgeschoß, die Tür öffnet sich automatisch und auch die Computeranlage ist auf seine Bedürfnisse ausgerichtet. Holger schaltet als erstes den Rechner an, reicht Clemens den Mundstab, damit sich dieser gleich an die Arbeit machen kann, und holt dann Kaffee aus der Kantine. Ein Widerspruch gegen einen Bescheid des Versorgungsamtes ist zu schreiben. Mit dem Mundstab tippt Clemens den Text, was „anstrengender aussieht, als es ist – Gewöhnungssache,“ meint er. Holger zieht den fertigen Brief aus dem Drucker und hält ihn Clemens zur Unterschrift hin – eine schwierige Prozedur. Seine Hände, die ähnlich wie bei Contergan-Geschädigten verformt sind, kann er nur mit äußerster Konzentration kurze Zeit kontrollieren.
Telefongespräche sind zu erledigen. Wählen kann Clemens mit dem Mundstab selbst, die Leitung kappt Holger am Ende des Gesprächs. Wenige Minuten später steht der erste Beratungstermin an. Clemens ist mittlerweile ein Spezialist im Behördendschungel. Bei der Pflegeversicherung kennt er sich genauso aus wie in der Berechnung von Zusatzrenten. Das Mittagessen holt Holger aus der Kantine, er füttert Clemens und nach einem Verdauungszigarillo machen sich beide auf ins Krankenhaus Boberg, um die Abteilung für Querschnittsgelähmte für eine etwa halbstündige Beratung zu besuchen. Zurück im Amt sind noch zwei Telefongespräche zu erledigen. Zum Dienstschluß um 16 Uhr wechselt auch die Assistenz von Clemens, doch dessen Arbeitstag ist noch nicht beendet.
Er ist im Vorstand des Club 68, einem Verein für Behinderte. Veranstaltungen vorbereiten, redaktionelle Arbeit für die Vereinszeitung und abends noch Vorstandssitzung - bis 23 Uhr. Auch in den Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft für Behinderte Menschen wurde Clemens gewählt.
„Ohne meine persönliche Assistenz könnte ich meinen Job und die Vorstandstätigkeit an den Nagel hängen. Ich bin nun mal auf ständige Hilfe angewiesen, und die ist im Laufe der Jahre immer teurer geworden. Eine Einweisung ins Heim wäre Entmündigung. Ich kenne das Leben in Heimen nur zu gut.“
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